Briefe an meine geistlichen Kinder. Teil 5

10. November 2021

Briefe an meine Geistlichen Kinder

IGUMEN NIKON (WOROBJOW)

Briefe an Menschen in Kozelsk, die einen monastischen Weg gewählt haben

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Mein liebes und herzverwandtes Mütterchen Valentina!

Trachtet vor allem nach dem Reich Gottes und seiner Wahrheit. Kann sich ein Mensch etwa aus eigener Kraft seine Existenz sichern? Wenn ihr euch körperlich müht, dann solltet ihr dies auch geistlich tun. Sein Herz muss man ebenso, ja sogar noch mehr bearbeiten, als den Garten. Wenn ein Mensch sogar andere Menschen, die er für sich arbeiten lässt, bezahlt, wird der Herr dann etwa die ohne Lohn gehen lassen, die für ihn zu arbeiten bereit waren? Was aber bedeutet, für ihn zu arbeiten? Das wissen Sie sehr gut. Es bedeutet zu beten und sich genau zu beobachten, gegen seine Gedanken anzukämpfen und nicht wegen irgendwelcher Kleinigkeiten mit anderen in Streit zu geraten, sondern vielmehr im Konflikt mit anderen nachzugeben, auch wenn die Sache deswegen Schaden zu nehmen scheint (später werden Sie viel mehr Gewinn daraus ziehen). Es bedeutet, sich zufrieden zu geben, seine geheimsten Gedanken einander zu öffnen und öfter zum Abendmahl zu treten usw.

Kann man all dies tun, während man arbeitet? Wenn auch nicht alles, weil wir schwache Wesen sind, so doch Vieles. Aber auch wenn man es nicht tut, kann man es wenigstens bereuen und auf diese Weise zur Demut gelangen. Auf keinen Fall jedoch sollte man sich rechtfertigen, denn durch Selbstrechtfertigung versagen wir es uns, geistlich zu reifen. Wenn wir nicht das tun, was wir tun sollten, und nicht bereit sind, Beleidigungen und Kränkungen zu ertragen, und so auch durch diese nicht zur Demut gelangen, dann weiß ich schon nicht mehr, was ich sagen soll. Worin unterscheiden wir uns dann noch von den Ungläubigen? Deshalb bitte ich euch alle: Ertragt Beleidigungen und die Kritik der Menschen an euch, auch wenn diese nicht gerechtfertigt sind. Ein jeder trage des anderen Last (Gal. 6,12), um so wenigstens die Unzulänglichkeiten unserer geistlichen Arbeit auszugleichen. Das Wichtigste ist, zu begreifen, dass man sämtliche Beleidigungen und alles Leid verdient hat (wir empfangen, was unsere Taten wert sind – Lk. 23,41).

Es ist euch klar, dass die Menschen der letzten Tage vor dem Weltenende durch Leiden zum Heil gelangen. Sind wir also von diesem Gesetz ausgenommen? Nicht umsonst haben die Heiligen Väter geraten, immer öfter, viele Male jeden Tag, des Todes und des Jüngsten Gerichtes zu gedenken sowie sich daran zu erinnern, dass wir vor dem Herrn für alles, was wir tun, für jedes Wort und jeden Gedanken, Rechenschaft ablegen müssen. Also auch für jede Lüge und für unseren Hang zu allem Irdischen, für unsere Ehrsucht und für alles Geheime, was nur Gott und unserem Gewissen bekannt ist. Denkt auch ihr öfter daran.

Möge der Herr euch alle segnen!

Liebes Mütterchen Valentina!

Ich habe Ihren Brief erhalten. Ich danke Ihnen für alles.

Es ist nämlich so, liebes Mütterchen Valentina: Je näher ein Mensch wirklich, nicht nur illusorisch, zu Gott gelangt, umso stärker fühlt er seine eigene Unwürdigkeit und Sündhaftigkeit. Er empfindet sich sündiger als alle anderen Menschen. So haben es die Heiligen Väter empfunden. Es gibt viele Beispiele. Sie kennen sie selbst.

Der Zöllner hat sich aus einem anderen Grund als Sünder empfunden. Er hat seine Sündhaftigkeit begriffen und für sie keine Rechtfertigung gesucht. Er hat einfach nur den Herrn um dessen Erbarmen und Vergebung gebeten und diese bekommen. Alle Menschen stehen vor Gott in unendlicher Schuld. Keine auch noch so großen Heldentaten können diese Schuld jemals tilgen. Der Herr selbst sagt, dass auch, wenn ihr all das, was euch aufgetragen war (also alle Gebote), getan habt, dann haltet euch für unnütze Knechte, die einfach verpflichtet sind, all das zu tun, was ihr Herr ihnen gebietet (Lk. 17,10). Das bedeutet also, dass wir alle, die wir in einem fort die Gebote übertreten, verpflichtet sind, uns so zu fühlen wie der Zöllner. Wir sollten also nicht in uns selbst nach irgendwelchen Verdiensten suchen, was auch immer wir in der Tat geleistet haben mögen. Wir bleiben immer unnütze Knechte. Nur die Barmherzigkeit Gottes verzeiht den Sündern und nimmt sie in sein Reich auf.

Das ist der Grund, warum die Heiligen Väter verboten haben, nach besonderen, hohen geistlichen Zuständen zu streben. All unser inneres Ringen soll allein auf die Buße konzentriert sein und auf das, was uns dabei unterstützt. Gott kommt dann ganz von selbst, wenn wir innerlich rein geworden sind, und er es selbst für angemessen hält, zu uns. Wenn das Herz eines Asketen nicht vom Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit beherrscht und deshalb nicht zerschlagen ist, dann ist dieser Asket mit unbedingter Sicherheit auf einem falschen geistlichen Weg. Insbesondere derjenige, der sich darum bemüht, mehr als das empfohlene Maß zu beten, sollte darauf achten, dass sein Gebet dem des Zöllners gleicht und sein Herz wie das des Zöllners zerschlagen ist. Andernfalls wird er von den Dämonen in die Irre geführt werden, eine hohe Meinung von sich selbst entwickeln und so in die Fänge von Ehrsucht und falscher geistlicher Verzückung geraten. Möge der Herr uns davor bewahren.

Das ist die Antwort, da ihr ja wissen wolltet, was es bedeutet, im Geiste des Zöllners zu leben. Der Herr hat im Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer gezeigt, wie wir beten sollten, worauf unsere Seele ausgerichtet sein sollte und worauf auf keinen Fall (so wie beim Pharisäer). Nach der Menschwerdung des Heilandes und seinen Leiden haben die Heiligen Väter das Gebet des Zöllners durch das Jesusgebet ersetzt. Der Sinn ist der gleiche.

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