Der Große Kanon

5. April 2022

Der Grosse Kanon

Jetzt müssen wir auf die Idee und Erfahrung der Fastenzeit als geistliche Reise zurückkommen, deren Zweck es ist, uns von einem geistlichen Zustand in einen anderen zu führen. Wie wir bereits gesagt haben, verstehen die meisten modernen Christen diesen Zweck der Großen Fastenzeit nicht und sehen darin nur jene Zeitspanne des Jahres, in der sie ihre religiösen Pflichten erfüllen, die Kommunion empfangen (einmal im Jahr!) und sich dabei einigen Beschränkungen bei den Speisen unterwerfen müssen, die dann in der ersten Osterwoche schon wieder vollständig aufgehoben werden. Und dadurch, dass nicht nur weltliche Menschen, sondern auch viele Priester dieses einfache und formale Verständnis der Großen Fastenzeit akzeptierten, verschwand ihr wahrer Geist fast aus dem Leben. Die Wiederherstellung der liturgischen und geistlichen Bedeutung der Großen Fastenzeit ist eine unserer wichtigsten und dringendsten Aufgaben, aber diese Wiederherstellung ist nur auf der Grundlage eines wahren Verständnisses des liturgischen Rhythmus und der Struktur der Gottesdienste der Großen Fastenzeit möglich.

Gleich zu Beginn der Großen Fastenzeit finden wir den großen Bußkanon des hl. Andreas von Kreta, der uns die „Tonart“ angibt, von der aus sich die gesamte Fasten-„Melodie“ entfaltet. Er ist in vier Teile gegliedert und wird am Abend der ersten vier Tage der Fastenzeit in der Großen Komplet gelesen. Es kann als reuevolle Klage beschrieben werden, die uns die ganze Unermesslichkeit, den ganzen Abgrund der Sünde offenbart und die Seele mit Verzweiflung, Reue und Hoffnung erschüttert. Mit außergewöhnlicher Kunstfertigkeit verknüft der Hl. Andreas die großen biblischen Bilder – Adam und Eva, Paradies und Sündenfall, Patriarch Noah und die Sintflut, David, das gelobte Land und vor allem Christus und die Kirche – mit Sündenbekenntnis und Reue. Die Ereignisse der heiligen Geschichte werden als die Ereignisse meines Lebens offenbart, die Taten Gottes in der Vergangenheit, als Taten, die mich und meine Errettung betreffen, die Tragödie der Sünde und des Verrats, als meine persönliche Tragödie. Mein Leben wird mir als Teil dieses großen, allumfassenden Kampfes zwischen Gott und den Mächten der Finsternis gezeigt, die sich gegen Ihn erheben.

Der Kanon beginnt mit einem zutiefst persönlichen Klageruf:

Womit soll ich beginnen, wenn ich meines armen Lebens Werke beweine? Welchen Anfang soll, Christus, ich geben dem gegenwärtigen Klagegesang?...

Nacheinander werden meine Sünden in ihrer tiefen Verbindung mit der andauernden Tragödie der Beziehungen des Menschen zu Gott offenbart. Die Geschichte vom ersten Sündenfall ist meine persönliche Geschichte:

Dem ersten Menschen Adam hab ich nachgestrebt durch Übertretung und ich erkannte, dass ich nackt war Gottes und des ewigen Reiches der Wonne ob meiner Sünden.

Ikone vom Suendenfall und der Vertreibung aus dem Paradies

Ikone vom Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies

Ich verlor alle göttlichen Gaben:

Befleckt hab ich mein Fleischgewand, besudelt dein Bild und Gleichnis, o Heiland. Verfinstert habe ich der Seele Lieblichkeit durch der Leidenschaften Lüste, mit einem Wort, ganz den Geist gemacht zu Erdenstaub.

So sprechen die neun Lieder des Kanons vier Abende lang immer wieder von der geistlichen Geschichte der Welt, die zugleich die Geschichte meiner Seele ist. Die Worte des Kanons ziehen mich zur Rechenschaft, denn sie sprechen von Ereignissen und Taten der Vergangenheit, deren Sinn und Macht ewig sind. Da jede menschliche Seele einzigartig und unverwechselbar ist, muss sie denselben Weg der Prüfungen durchlaufen, steht vor der gleichen Wahl, trifft auf eben diese höchste und wichtigste Realität. Schriftbeispiele sind nicht bloße „Allegorien“, wie viele denken.So meinen sie, dass der Große Kanon mit Namen und Begebenheiten überladen ist, die nicht zu ihnen gehören. Solche Leute fragen, warum über Kain und Abel, über Salomo und David reden, wenn es einfacher wäre zu sagen: „Ich habe gesündigt“? Sie verstehen nicht, dass das eigentliche Konzept des Wortes Sünde in der biblischen und christlichen Tradition eine Tiefe und einen Reichtum hat, den der „moderne Mensch“ einfach nicht verstehen kann, und dass sich sein Bekenntnis seiner Sünden daher grundlegend von echter christlicher Reue unterscheidet. Tatsächlich schließt die Kultur, in der wir leben und die unsere modernen Ansichten formt, im Wesentlichen das Konzept der Sünde einfach aus. Denn Sünde ist in erster Linie der Sturz eines Menschen aus unermesslicher geistiger Höhe, seine Ablehnung seiner „hohen Berufung“. Aber welche Bedeutung kann das für eine Kultur haben, die diese „geistliche Höhe“, diese „Berufung“ nicht kennt und sogar leugnet und einen Menschen nicht „von oben“, sondern „von unten“ bewertet. Für eine Kultur, die, wenn nicht sogar offen Gott leugnet, wirklich alles von oben bis unten materialistische Weise betrachtet und ebenso das Leben eines Menschen nur unter dem Gesichtspunkt des materiellen Wohlergehens beurteilt und seine hohe, transzendentale Berufung nicht anerkennt? Sie betrachtet die Sünde hauptsächlich als eine natürliche „Schwäche“, die hauptsächlich aus sozialer Unordnung stammt und daher durch eine bessere soziale und wirtschaftliche Organisation korrigiert wird. Daher bereut der moderne Mensch, selbst wenn er seine Sünden bekennt, sie nicht mehr. Abhängig von diesem oder jenem Verständnis seiner „religiösen Pflichten“ zählt er entweder seine Sünden und Verstöße gegen rituelle Regeln förmlich auf oder er spricht mit dem Beichtvater über seine „Probleme“ und erwartet von der Religion eine Art Therapie, eine Behandlung, die ihm Glück und Ruhe wieder schenkt. In keinem Fall sehen wir die Reue, die Erschütterung eines Mannes, der, nachdem er sich selbst als ein Bild von unaussprechlichem Ruhm gesehen hat, erkennt, dass er dieses "Bild" verraten, es mit seinem Leben befleckt und abgelehnt hat; es gibt keine Reue im Sinne der Traurigkeit über die Sünde, die aus den Tiefen des menschlichen Bewusstseins kommt, als Wunsch zurückzukehren, als Hingabe an Gottes Barmherzigkeit und Liebe. Deshalb reicht es nicht aus, einfach zu sagen: "Ich habe gesündigt." Diese Worte erlangen ihre wahre Bedeutung und Wirksamkeit erst, wenn die Sünde in all ihrer Tiefe und ihrem Leid wahrgenommen und erfahren wird.

Der Sinn und Zweck des Großen Kanons liegt genau darin, uns die Sünde zu offenbaren und uns dadurch zur Buße zu führen. Aber er zeigt uns Sünde nicht durch Definitionen und Aufzählungen, sondern durch eine Art tiefer Betrachtung der biblischen Geschichte, die wahrhaftig die Geschichte der Sünde, Buße und Vergebung ist. Diese Betrachtung führt uns in eine ganz andere geistliche Kultur ein, fordert uns auf, ein ganz anderes Verständnis von einem Menschen, seinem Leben, seinen Zielen, seinen geistlichen „Motivationen“ anzunehmen. Der Kanon stellt in uns jene geistliche Haltung wieder her, in der Reue wieder möglich wird. Wenn wir zum Beispiel hören:

Abel ward ich, Jesus, an Gerechtigkeit nicht ähnlich. Nie hab ich jemals wohlgefällige Geschenke dir gebracht, nicht heilge Werke, nicht ein reines Opfer, nicht ein Leben ohne Fehl.

Fresko: Kain und Abel bringen ihre Opfer dar

Fresko: Kain und Abel bringen ihre Opfer dar

Wir verstehen, dass die Geschichte des ersten Opfers, die in der Bibel nur kurz erwähnt wird, uns etwas Grundlegendes in unserem eigenen Leben, Grundlegendes im Menschen selbst offenbart. Wir verstehen, dass Sünde zuallererst die Weigerung ist, eines Lebens als Darbringung und Gabe, als Opfer für Gott, oder mit anderen Worten, die Weigerung, für Gott und gemäß Gott zu leben. Wir verstehen, dass die Wurzel der Sünde die Abweichung unserer Liebe von ihrem höchsten Ziel ist. Und dank dieser Offenbarung wird es möglich, Worte zu äußern, die von der modernen Lebenserfahrung unendlich weit entfernt sind, aber von der tiefsten Wahrheit künden.

Den Lehm, o Töpfer, hast zum Lebewesen du geformt, du senktest in mich ein: Fleisch und Gebein und Geist und Leben. Wohlan, mein Bildner, mein Heiland und mein Richter, nimm mich, den Reuigen, auf.

Um den Großen Kanon wirklich zu „hören“, sind natürlich Kenntnisse der Bibel und die Fähigkeit, sich die Bedeutung biblischer Bilder anzueignen, erforderlich. Wenn es heute so viele langweilig und irrelevant für unser Leben finden, dann deshalb, weil ihr Glaube nicht aus der Quelle der Heiligen Schrift gespeist wird, die für die Kirchenväter gerade die Quelle ihres Glaubens war. Wir müssen wieder lernen, die Welt wahrzunehmen, wie sie uns in der Bibel offenbart wird, lernen, in dieser biblischen Welt zu leben; und es gibt keinen besseren Weg, dies zu lernen als durch den Gottesdienst, der uns nicht nur die biblische Lehre vermittelt, sondern uns auch die biblische Lebensweise offenbart.

Deshalb beginnt der Fastenweg mit einer Rückkehr zum „Ausgangspunkt“, zur Erschaffung der Welt, zum Sündenfall, zur Erlösung, zu jener Welt, wo alles von Gott spricht, alles Gottes Herrlichkeit widerspiegelt, wo alles, was geschieht, alle Ereignisse direkt mit Gott verbunden sind, wo ein Mensch die wahren Dimensionen seines Lebens findet und, nachdem er sie gefunden hat, bereut.

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