Ständiges Beten im Geiste

18. Februar 2024

Prof. Alexej Osipow

Es zeigt sich nämlich – und das mag sehr merkwürdig klingen - dass in der Regel gerade jene Menschen, die sich aus der Welt zurückgezogen haben und außerhalb ihrer leben, das Wesen des Lebens, sein Mark und seinen Sinn am besten verstanden und darüber wunderbare Dinge geschrieben haben! So zum Beispiel äußert in diesem Buch der Heilige Timotheus von Walaam (er hat sein Leben als Mönch in Walaam begonnen und ist dann auf den Athos gegangen) folgenden lebenswichtigen Gedanken.

Wir alle erfahren in unserem Leben nicht wenige schmerzhafte Momente. Jeder hat seine ganz persönlichen Nöte, seinen Kummer und Probleme. Es gibt da so viel Verschiedenes. Der Heilige Timotheus meint jedoch dazu: „Wenn man mit all dem keine Geduld aufbringen kann, geht man den Dämonen ins Netz“. Was für ein interessanter und wichtiger Gedanke! Er weist uns auf eine sehr wichtige Seite in unserem Leben hin.

Die Sache ist die, dass nach christlicher Auffassung alle Menschen in gewisser Weise krank sind – geistlich erkrankt sind. Es geht hier nicht um den Leib. Wenn wir also erkrankt sind, dann wird sich diese Krankheit mit hundertprozentiger Sicherheit auch in unserem Seelenzustand ausdrücken sowie auch darin, wie sich unser Leben nach außen hin darstellt.

Wie soll man nun damit umgehen? Natürlich kann sich ein Kranker darüber empören und schreien, alle auf der Welt anfeinden und beschimpfen. Ein vernünftiger Mensch jedoch wird sagen: Nein, hier ist Geduld vonnöten. Warum? Weil Ungeduld das Leiden nur noch um ein Vielfaches verstärkt und es so unerträglich machen kann, dass es einen Menschen in den Selbstmord treibt.

Das Christentum zeigt dem Menschen, welches Mittel ihm Heilung verschaffen kann und was ihm guttut. Was für ein Mittel ist das? Der Heilige Timotheus (und natürlich nicht nur er) meint, dass man ohne ständiges Beten im Geiste weder die Leidenschaften besiegen noch geistliche Vollkommenheit erreichen kann, geschweige denn sich mit Gott vereinigen, das heißt mit dem wahrhaft Guten, nach dem wir so sehr auf der Suche sind.

Ständiges Beten im Geiste ... was bedeutet dies und warum ist es nicht möglich, ohne dem Heilung zu erlangen? Unser Problem besteht darin, dass wir vergessen haben, was die Grundlagen unseres christlichen Glaubens ausmachen, und dass wir uns weit entfernt haben von den eigentlichen und grundsätzlichen Dingen eines christlichen Lebens. Der Heilige Timotheus also meint, dass „Ständiges Beten im Geiste“, von dem der moderne Christ schon keine Vorstellung mehr hat, das wirksamste Mittel ist, das den Menschen von all den, sagen wir einmal, Verwurzelungen des Bösen in ihm befreit, die ihn quälen und ihn ständig immer wieder neuen Kummer und Unglück usw. erleiden lassen. Dieses Mittel vereinigt uns mit der Liebe Selbst oder mit Gott – was in diesem Falle das Gleiche ist.

Das bedeutet also, dass in einem Menschen, der nicht ständig betet, weder die Orthodoxie noch überhaupt irgendeine Religion lebendig ist. Wenn wir das Wort Religion aussprechen, dann geht unser Blick sofort nach oben zu Gott und wir sollten zuallererst darüber sprechen, was für uns geistlich besonders wertvoll ist. Denn gerade das Gebet ist eine solche großartige Kostbarkeit, die einen Menschen ganz verwandelt. Nur das Gebet macht aus ihm einen religiösen Menschen. Eine Religion ohne Gebet ist keine Religion. Deshalb ist ein Mensch, der sich nicht um das Beten bemüht, ein nichtreligiöser Mensch. Religion bedeutet Vereinigung des Menschen mit Gott*. Vereinigung! Wie aber vollzieht sich eine solche Vereinigung? Nur im Gebet. Das Gebet ist jener „Schalter“, mit dessen Hilfe wir das Licht einschalten - in diesem Falle das Licht Gottes in unserer Seele. Und dies ist nur möglich, wenn wir beten.

Dabei ist aber etwas äußerst Wichtiges zu beachten, denn man kann auf rechte und wahrhafte Weise beten, aber auch auf fälschliche Weise. Das Beten kann einen Menschen reinigen, ihn aber auch zugrunde richten. Es kann ihn hinauf in den Himmel führen, aber ebenso auch hinab in die Hölle. Ist das nicht wirklich merkwürdig? Wie kann es sein, dass Beten! einen Menschen zerstören kann? Ist so etwas etwa möglich?

Nur der, der nie versucht hat, die Schriften der Heiligen Väter zu lesen, kann darüber verwundert sein. Es gibt dort nämlich den Begriff der fälschlichen religiösen Verzückung, der umschreibt, wie ein Mensch aus Eigendünkel und Hang zur Schwärmerei heraus auf falsche Weise nach einem Zustand strebt, zu dem er überhaupt noch nicht bereit ist. Dies ist beim Beten sehr leicht möglich. Ein Mensch, der nicht weiß, wie man auf rechte Weise betet, beginnt, sich höhere Seelenzustände auszumalen, von denen er irgendwo etwas gelesen hat. Er fängt an, äußere Gebetsmethoden anzuwenden – physische und psychische, um beim Beten Genuss zu empfinden, Begeisterung zu erlangen und in den Besitz geistiger Gaben zu kommen. All das jedoch führt dazu, dass der Mensch am Ende zugrunde geht.

Ein Bischof hat mir erzählt, dass einmal, als er noch Mönch in der Sergij-Dreifaltigkeit-Lawra war, ein Arbeiter aus dem Kloster zu ihm gekommen ist und ihn gefragt hat: „Haben Sie die Gabe der Hellsichtigkeit?“ „Nein, ich besitze diese Gabe nicht“. „Aber was machen Sie denn dann hier? Sie sind doch schon fünf Jahre im Kloster und besitzen noch immer nicht die Gabe der Hellsichtigkeit? Warum sind Sie dann überhaupt Mönch geworden?“ Solche Vorstellungen also können in jemandem ihr Unwesen treiben.

Doch was bedeutet das Wort Beten eigentlich? Wenn jemand im Sterben ist oder ertrinkt oder wenn jemand von Banditen überfallen wird, dann schreit er um Hilfe und denkt an nichts anderes als an seine Rettung. Genau auf dieselbe Weise sollten wir uns im Gebet an Gott wenden, wenn wir fühlen, dass wir an unseren Sünden und Leidenschaften in unserem sinnlosen Leben zugrunde gehen. Ein solcher Hilfeschrei nämlich ist wahres Beten! Wenn Beten aber zu einer Suche nach seelischem Wohlempfinden wird und es kein Schrei nach Rettung mehr ist, dann wird aus ihm eine Karikatur, ein Wahnwitz, ein fälschliches religiöses Entzücken und hört auf Gebet zu sein.

Nicht umsonst entgegnete der Heilige Serafim (Romanzow) jenem Mönch, der ihm verkündet hatte, dass er den Zustand des ununterbrochenen Gebetes erreicht hätte: „Nein, du betest überhaupt nicht auf rechte Weise, du bist einfach nur daran gewöhnt, die Worte herzusagen, wie andere sich daran gewöhnen, über alles herzuziehen“. Man kann also statt zu beten, einfach nur allein mit der Zunge immerwährend die Worte eines Gebetes wiederholen, ohne dabei nachzudenken und mitzufühlen und sich so damit selbst betrügen!

Es kommt auch vor, das ein Mensch sich als Christ sieht, als Orthodoxer, und sein ganzes Leben lang – verzeihen Sie mir bitten den Ausdruck – die Gebete einfach nur so „herunterleiert“, das heißt, sie einfach nur laut vorliest, ohne sich weiter über sie Gedanken zu machen, ohne besondere Aufmerksamkeit und ohne ein Empfinden von Reue. Was für einen Nutzen hat das Beten dann aber?

Doch wie sollte man nun beten, damit das Gebet in der Tat zu einem wirkungsvollen Mittel zur Heilung und zum Heil für den Menschen wird?

Es gibt drei wichtige Grundbedingungen, drei Wesenszüge wahrhaften Betens, die ein jeder Christ unbedingt wissen sollte. Das erste ist Aufmerksamkeit. Wir können ja eben auch nicht mit einem – ja selbst gewöhnlichen – Menschen in einen Dialog treten, ohne ihm die geringste Aufmerksamkeit zu schenken! Was würde dann geschehen? Er wird beleidigt sein und das war es dann. Wie aber wenden wir uns an Gott? Wir lesen zwar die Gebete, in unseren Gedanken jedoch sind wir ganz woanders. Deshalb spricht der Herr: „Dieses Volk naht sich zu mir mit seinem Munde und ehrt mich mit seinen Lippen, doch ihr Herz ist fern von mir und vergeblich dienen sie mir“ (Mt. 15,8). Der Heilige Ignatius Brjantschaninow warnt uns: „Ein Gebet ohne Aufmerksamkeit ist keines. Es lebt nicht! Es ist nutzloses, seelenzermürbendes und Gott beleidigendes, leeres Geschwafel“! Der erste Wesenszug richtigen Betens ist also Aufmerksamkeit.

Der zweite ist Ehrfurcht, sowohl innere als auch äußere. Es ist verständlich, dass man beim Beten nicht mit überkreuzten Beinen dasitzt oder in der Nase popelt.

Und zum Schluss – und das ist das Wichtigste – das Empfinden von Reue oder aber Dankbarkeit Gott gegenüber. Denn nur diese beiden Haltungen lassen ein Gebet wirklich zu einem Gebet werden. Ohne dem gibt es kein wahres Beten.

Das heißt also, dass beim Beten sowohl die Suche nach seelischem Genuss statt nach Vergebung der Sünden eine Verirrung darstellt und dass auch das gedankenlose Ablesen von Gebetstexten statt wahrhaftig zu beten verwerflich ist. In beiden Fällen betrügt der Christ sich selbst. Gleiches kann auch beim Besuch einer Kirche geschehen: „Ist man in der Kirche gewesen?“ – „Ja, man ist hingegangen“. Aber wo war man in seinen Gedanken? Erinnern Sie sich an den Heiligen Basilius den Narren in Christo? Man hatte ihn einmal gefragt, ob viele Leute in die Kirche gekommen seien. Er entgegnete: zwei Personen. Die Kirche war aber voll gewesen. In der Tat kann man in die Kirche gehen, in Wirklichkeit aber dort gar nicht anwesend sein, das heißt, nicht wahrhaft zu beten, sondern nur hingehen, um den Kirchgang auf dem Wochenplan abhaken zu können oder um von anderen dort gesehen zu werden. Man hat so sein Gewissen überlistet und in der Seele wieder seine Ruhe – man hat ja alles getan.

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* Religion – vom lateinischen religare: verbinden, eine Verbindung herstellen

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