Gott hat uns frei geschaffen, und dafür dürfen wir Ihm unser ganzes Leben lang danken, ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben. Denn es sind nicht die Umstände, die den Menschen daran hindern, frei zu sein in dem Sinne, dass er er selbst ist, voller schöpferischer Kraft, dass er fähig ist, nicht nur seine Freunde, Verwandten, geliebten Nächsten, sondern auch seine Feinde mit unbesiegbarer Liebe zu lieben. Und um dies zu verwirklichen, kann jeder Mensch durch eine strenge Ausbildung, durch eine große Anstrengung lernen, ein Sohn Gottes nach dem Bild des Herrn Jesus Christus zu sein.
Denken Sie darüber nach, denn diese Freiheit, die uns angeboten wird, ist ein Aufruf zur ultimativen Kreativität, zur Entfaltung des eigenen Wesens. Und keine Umstände können einen Menschen daran hindern, er selbst zu sein. Epiktet der antike Philosoph, war ein freier Mensch und schaffte es, sich innerlich in wahrer Freiheit zu erziehen. Während des Krieges zwischen den Römern und den Griechen fand er sich als Sklave eines grausamen Herrn wieder, der ihn auf jede erdenkliche Weise unterdrückte und schließlich begann, an ihm die Mittel der Folter zu erproben, Geräte, mit denen man einen Menschen quälen kann. Aber auch das konnte Epiktet nicht besiegen. Als ihm bei einer solchen Erfahrung das Bein gebrochen wurde, sah er seinen Peiniger nur an und sagte: „Habe ich dich nicht gewarnt...?“
Ich habe bereits gesagt, dass Gott die volle Verantwortung für die Erschaffung der Welt, des Menschen, für die Freiheit, die er ihm gibt, und für alle Folgen, zu denen diese Freiheit führt, übernimmt: das Leiden, den Tod, das Grauen, das wir oft verursachen. Ich habe auch gesagt, dass die Rechtfertigung Gottes (wenn ich so sagen darf, wenn ich von Gott spreche) darin besteht, dass Er Selbst Mensch wird. In der Person des Herrn Jesus Christus kommt Gott in die Welt, nimmt Fleisch an, vereinigt sich mit uns in unserem menschlichen Schicksal und trägt alle Folgen der Freiheit, die Er uns selbst geschenkt hat. Er lebt unter den Menschen, die Ihm fremd sind. Am Beginn seines Lebens steht Ablehnung. Als die Mutter Gottes nach Bethlehem kommt und ein Kind erwartet, klopft sie an alle Türen, und keine öffnet sich, oder wenn doch, dann wurde sie vor ihr wieder zugeschlagen: Wir sind hier glücklich, wir leben in unserer eigenen Familie, wir sind glücklich mit der Wärme und dem Licht um uns herum, wir brauchen keine Fremden... Das ist der Beginn des Eintritts Gottes in die Geschichte unserer geschaffenen Welt. Und weiter wissen wir, dass Er sowohl von Liebe, als auch Misstrauen und unfassbarem Unverständnis umgeben war, von der Blindheit der Menschen, die in Ihm nicht sahen, was Er war, und nicht verstanden, was Er sagte.
Und nun möchte ich noch etwas anderes sagen: Ist Gott umsonst Mensch geworden? War es vergeblich, dass er als Mensch lebte, mit all den erwähnten Gefühlen konfrontiert wurde und sein Leben einsamer, ängstlicher beendete, als er es auf der Erde begonnen hatte? Er, der Allmächtige, Unsterbliche, Unendliche, wollte aus Liebe zu uns verletzlich, wehrlos werden, sich in unsere Hände geben, wie man einem geliebten Menschen Liebe schenkt, in der Hoffnung, dass sie angenommen wird, und in dem Wissen, dass sie zurückgewiesen werden kann - und in der Person Christi wurde sie zurückgewiesen. Christus starb am Kreuz, verlassen von allen Menschen. Und um mit uns das ganze Schicksal des Menschen zu teilen, erlebte unser Erlöser Christus in Seinem Menschsein, in Seinem menschlichen Bewusstsein das, was der größte Verlust für den Menschen ist, die größte Tragödie im Leben der Menschheit: den Verlust Gottes, eine metaphysische Ohnmacht, als Er plötzlich allein zurückblieb, sterbend, und mit uns das Schrecklichste teilte, was es geben kann - die Gottlosigkeit, die Abwesenheit Gottes im Leben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“. Kein gottloser Mensch auf Erden hat jemals den Verlust Gottes so erfahren, wie der Sohn Gottes, der Menschensohn wurde, ihn erfahren hat.
Und wie hat die Erde auf die himmlische Liebe reagiert? Einige, sehr wenige Jünger blieben bei Ihm. Aber sie gingen dann in die ganze Welt, die sie damals kannten, und trugen die Botschaft weiter, dass wir von Gott geliebt sind, dass Gott uns liebt mit dem ganzen Leben und dem ganzen Tod, mit der ganzen Gottverlassenheit des Herrn Jesus Christus.
Das war der Anfang der Kirche. Und die Kirche ist diese seltsame, von außen unbegreifliche Gemeinschaft, die aus uns Menschen besteht, sündig, zerbrechlich, schwach, unwürdig nicht nur Gott, sondern auch uns selbst und einander gegenüber, und gleichzeitig - der Ort, an dem Gott und Mensch sich begegnen, sich in Liebe vereinen, zu einer Gesellschaft werden, was Chomjakow, glaube ich, den „Organismus der Liebe“ nannte.
Die Kirche ist also eine seltsame Gemeinschaft. Das Auffällige an ihr ist, dass es sich um eine Gemeinschaft von Menschen handelt, die - wie es für alle Menschen typisch ist - zerbrechlich sind, oft ihres menschlichen Ranges nicht würdig. Aber gleichzeitig gibt es auch eine unsichtbare Seite der Gegenwart Gottes in der Kirche.
Der Katechismus sagt, dass die Kirche eine Gemeinschaft ist, die durch die Einheit des Glaubens, die Einheit des Gottesdienstes und die Hierarchie geeint ist.
All dies ist richtig. Aber eine solche Definition ist wie die Beschreibung, die man einem Gebäude gibt, damit man es von außen erkennen kann; um zu verstehen, was in ihm geschieht, muss man es betreten, muss man wahrnehmen, was in ihm geschieht. Und was geschieht in der Kirche? - Begegnung. Eine Begegnung, die Freude und Gericht zugleich ist. Freude, denn Gott von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, ist die größte Freude, die ein Mensch erleben kann, der Gott sucht, oder der Ihn noch nie gesucht hat, sondern plötzlich vor Seinem Angesicht steht und über Seine unbegreifliche Schönheit und Liebe staunt. Andererseits ist eine solche Begegnung aber auch ein Gericht. Wir wissen aus menschlicher Erfahrung, dass geliebt zu werden von irgendjemandem - Mutter, Vater, Braut - bedeutet, vor Gericht zu stehen. Denn geliebt zu werden bedeutet, dass jemand in uns etwas gesehen hat, das der Liebe würdig ist: Größe, Schönheit, Wahrheit, Reinheit, Licht. Und wenn wir uns selbst betrachten und darüber nachdenken, was wir wirklich sind, in unseren eigenen Augen oder in den Augen derer, die uns nicht geliebt haben, stehen wir vor dem schrecklichen Urteil unseres Gewissens: Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden!
Es ist erschreckender, als einer bestimmten Unwahrheit für schuldig befunden zu werden: stehlen, lügen, betrügen; hier geht es um die Frage, wer ich bin. Bin ich würdig, dass ein anderer Mensch (den ich auch auf meine Weise liebe, wenn auch schwach, unbeständig) Schönheit und Güte in mir sieht, obwohl ich weiß, wie wenig Schönheit, wie wenig Güte in mir ist? Und in dieser Hinsicht ist die Begegnung mit Gott sowohl die größte Freude (wie die Freude eines Menschen, zu dem jemand - Mutter, Braut, Bräutigam - sagt: Ich liebe dich), als auch gleichzeitig ein Gericht, ein schreckliches, endgültiges Gericht.
Aber der Gott, der zu mir sagt: Ich liebe dich, ist auch der Gott, der in uns alles hervorrufen kann, was am hellsten, am wahrsten ist. Er ist nicht nur der Schöpfer, der einst die Welt erschaffen hat, Er erschafft uns mit Seiner Liebe neu, denn seine Liebe ist schöpferisch, Er kann in uns alles hervorrufen, was am edelsten, am größten, am hellsten, am reinsten, am stärksten ist. Er schenkt sich uns in einem solchen Maß und in einer solchen Weise, dass wir Ihn nicht - verzeihen Sie mir diesen Ausdruck - beleidigen, nicht demütigen können, so wie wir ein Kind, das uns mit ganzer Offenheit, mit dieser ganzen Einfachheit der Liebe eines Kindes begegnet, nicht grausam, unhöflich, herzlos behandeln können.
Als ich von der Inkarnation sprach, von der Menschwerdung Gottes, habe ich betont, dass Gott in seiner Menschwerdung die ganze Zerbrechlichkeit des Menschen, seine ganze Wehrlosigkeit, seine ganze Verletzlichkeit auf sich nimmt; aber ist das nicht ein Bild der Liebe? Ist das nicht genau das, was Liebe ist? In dieser Selbsthingabe an uns, an die ganze Welt, offenbart sich Gott als die höchste, vollkommene Liebe, die wehrlos ist und uns durch ihre Wehrlosigkeit besiegt, rein, leuchtend, frohlockend, auch wenn wir uns vorübergehend oder sogar für lange Zeit einer solchen Liebe unwürdig finden.
Wie ich bereits gesagt habe, ist die Kirche ein Ort der Begegnung - eine Begegnung zwischen Gott und Mensch. Aber die Begegnung ist immer ein gegenseitiges Phänomen: Man kann einem Menschen nicht ohne Gegenseitigkeit, ohne irgendeine Art von Antwort begegnen. Und in dieser Hinsicht können wir, auch wenn wir nur ein Körnchen Glauben, nur einen Funken Liebe, nur einen Tropfen Hoffnung haben, mit Sicherheit sagen, dass die Begegnung stattfinden wird.
Einige von Ihnen erinnern sich vielleicht daran, wie Christus den Mann fragte: „Kannst du ein wenig glauben, denn der Glaube vermag alle Dinge...? Es ist das Wort „ein wenig“, das für unser Bewusstsein in der Kirche so wichtig ist. Keiner von uns kann sprechen, denken oder davon träumen, auf die Liebe Gottes - oder auch die menschliche Liebe - mit der ganzen Tiefe zu antworten, die sie verdient.
Wenn wir uns gegenseitig und noch mehr uns selbst betrachten, wird deutlich, wie viel Zerbrechlichkeit in uns steckt, wie viel Ungewissheit, wie viel Zögern, sogar einander gegenüber, gegenüber denen, die wir am meisten lieben; unsere Liebe verblasst, oder sie leuchtet, oder sie schwankt, oder wir können sie nicht finden, oder sie taucht plötzlich in ihrer ganzen Schönheit vor uns auf.
Und so erscheint uns die Kirche, wenn wir sie von außen betrachten, wenn wir die Menschen in ihr sehen - uns selbst, unsere Freunde, die Menschen um uns herum -, als ein Ort, an dem wir kaum hoffen können, eine solche Liebe wie die Liebe Gottes zu finden. Aber in der Kirche ist etwas anders. Sie besteht nicht nur aus uns Menschen: Sie ist durchdrungen von der Gegenwart Gottes - sowohl in der Person des Erlösers Christus als auch in der Person des Heiligen Geistes.
In der Person des Erlösers Christus sehen wir einen vollkommenen Menschen, d. h. einen Menschen, der fähig ist, als Mensch in unendlicher Tiefe auf die Liebe Gottes zu antworten. Andererseits wissen wir, dass er Gott ist, der Mensch geworden ist, und dass durch ihn, in seiner Menschlichkeit, die ganze Fülle der Gottheit gegenwärtig ist, dass Gott in seiner ganzen Herrlichkeit fast unsichtbar und heimlich unter uns gegenwärtig ist; er ist der vollkommene Mensch und die Gegenwart Gottes in der Kirche. Und die Menschheit, die ganze Menschheit, wir alle, vereint mit ihm, sind nicht mehr die gefallene, unwürdige Menschheit, als die wir sonst erscheinen; wir sind eine Menschheit, unter der es einen vollkommenen Menschen gibt, den Herrn Jesus Christus.