Sie verstehen das Gebet völlig falsch. In der Orthodoxie gibt es keinerlei Meditation, die Orthodoxie lässt es nicht zu und lehnt es ab. Darin liegt gerade einer der grundlegenden Unterschiede zwischen dem Katholizismus und der Orthodoxie. Nach meiner Sicht, versucht der Mensch im Katholizismus, sich auf seine Gefühle zu konzentrieren und ihnen zu vertrauen. Bei uns ist das ganz anders.
Im Zustand des Vergeistigt seins kann der Mensch auch mit normalen alltäglichen Dingen beschäftigt sein. Starez Siluan* hat gesagt: „Ich habe den Nächsten im Speisesaal gedient und habe ein zweites Mal Gott geschaut.“ Und gerade er hat keinerlei Meditationen durchgeführt, er hat einfach von Liebe erfüllt den Tisch gedeckt und die Brüder gespeist.
Es ist eine Sache, wenn der Mensch seinen Verstand und seine Aufmerksamkeit auf das Gebet konzentriert, um seinen Sinn zu erfassen. Und es ist eine ganz andere Sache, wenn er das Jesusgebet wiederholt und dabei die Probleme seiner Nächsten nicht bemerkt, nichts und niemand sieht, außer seinem Gebet und seiner „Geistlichkeit“; das ist schon der Tod. Sehr oft beginnen Leute, die Bücher über das Gebet gelesen haben, „ihr Gebet zu kreieren“. Und ihnen erwachsen irgendwelche Zustände, die sehr gefährlich sind. Aber wir benötigen ein beständiges Gedächtnis Gottes, um die Schönheit zu suchen und nicht in den Sündenpfuhl zu gelangen. Meditation bedeutet, dass der Mensch selbst in den Himmel steigen will. Aber wenn er im Himmel angekommen ist, dann trifft er dort auf jeden Fall den Teufel, der ihn täuscht. Das Gebet soll den Menschen demütig machen. „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich über mich Sünder.“ Der Mensch bittet um Vergebung bei Gott. Er betet nicht darum, um zu „entfliegen“. Das ist schon eine Köstlichkeit, ein Leiden. Anfangs besteht dieser köstliche Zustand bei jedem: der betende Mensch erfährt solch einen Zustand. Wenn er vorüber ist, denkt der Mensch nur noch daran dahin zurückzukehren. „Ich bete, mir wurde dabei so wohl, aber jetzt fühle ich mich schlecht.“ Aber es kann auch sein, dass wenn es dir schlecht geht und du betest, solch ein Gebet viel hilfreicher ist.
Wir passen unser Gebetsleben nicht unserem Zustand oder unserem Empfinden an. Wir bitten: „Herr, verzeih!“, wir beten, aber der Feind dringt mit Hilfe unserer Gedanken in unser Herz ein, er versucht alles in den Dreck zu ziehen, zu verkorksen, versucht, die Gemeinheit des Menschen aufzuzeigen. Und deshalb benötigen wir die Hilfe Gottes, und wir wenden uns an Ihn: „Herr, hilf.“
Aber „ein Gebet kreieren“ … Der Einsiedler betet für die ganze Welt, und man kann das falsch verstehen und sich vorstellen, dass er, wie ein Hindu, meditiert und in den Astral eingeht. Der Einsiedler aber betet mit Tränen für die ganze Welt, für die Menschen, die versucht werden und leiden. Und diese Worte sind keine platten Formeln, in ihnen stecken Liebe und Mitgefühl. Darin besteht der grundlegende Unterschied zwischen dem Gebet und der Meditation. Die Konzentration auf sich, auf seine inneren Möglichkeiten vergrößert nur den Stolz des Menschen. Aber wir sollen uns schlimmer als die Hunde fühlen, wie der Heilige Siluan vom Athos gesagt hat, nur dann werden wir wirklich beten.
* Der Heilige Siluan vom Berge Athos (mit weltlichem Namen: Semjon Iwanowitsch Antonow, 1866 – 1938), athonitischer Schimonach und Starez