Wir sollen unseren Schuldnern ihre Sünden vergeben

08 September 2024

Predigt von Metropolit Filaret von Moskau

Um die Lehre von der Vergebung der Sünder mit dem Ansporn, sie auch zu erfüllen, zu verbinden, bietet unser göttlicher Meister sie in diesem eindrucksvollen Gleichnis an.

Der König verlangt Rechenschaft von seinen Untertanen, die ein großes Vermögen in ihren Händen hatten, das ihm gehörte. Sie bringen einen, der ihm zehntausend Talente schuldet, d.h. eine Schuld, die für den Untertan unbezahlbar ist, und der nach den Gesetzen des Königreichs mit Frau und Kindern verkauft werden muss. Der Unglückliche, der nicht weiß, was er tun soll, bittet um einen Aufschub der Zahlung. Doch der König erbarmt sich und erlässt ihm die Schuld ganz und gar.

Ein majestätisches Schauspiel der Barmherzigkeit! Der Schuldner hat keine Möglichkeit, sich freizusprechen; das Gesetz verurteilt ihn; der König hat alle Macht, die Verurteilung zu vollstrecken; der Schuldige hält es nicht für möglich, um den Erlass der Schuld zu bitten, sondern nur um einen Aufschub: und plötzlich ist die Schuld vergeben. Das ist so wunderbar, dass, wenn der Herr, ohne die Rede fortzusetzen, gesagt hätte, wie einst in einem anderen Gleichnis: „Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10, 37), hätte das nicht versteinerte Herz sofort geantwortet: “Komm, lass es uns erfüllen.”

Aber der Herr ließ nicht ab, nachdem er gezeigt hatte, wie schön die Tugend ist; er sah voraus, dass nicht alle von ihrer Schönheit bezaubert sein würden, und er hielt es für nötig, das hässliche Gegenteil zu zeigen. Das Gleichnis geht weiter.

Der Großschuldner, dem die ganze Schuld erlassen wurde, trifft seinen eigenen Schuldner, einen seiner Helfershelfer, Untertanen desselben Königs. Die Schuld ist bedeutungslos, nur hundert Pfennige. Der Großschuldner verlangt von seinem Schuldner jedoch ganz energisch die Rückzahlung: „Bezahl, was du mir schuldig bist!“. Er hört die gleiche Bitte, die er selbst an den König gerichtet hat: „Habe Geduld mit mir, und ich werde dir alles zurückzahlen“ (Mt 18, 28-29): aber er gedenkt nicht des Vergangenen, lässt sich nicht vom Gegenwärtigen bewegen und wirft seinen Schuldner ins Gefängnis.

Welch unangebrachte Grausamkeit! Ihm selbst wird vergeben: aber er will nicht vergeben. Er selbst hat um einen Aufschub einer unmöglichen Zahlung gebeten: aber die mögliche will er nicht aufschieben. Wenn der vorhergehende Teil des Gleichnisses stark zum Verzeihen anregt, so spiegelt dieser zweite Teil noch stärker den Gedanken des Nichtverzeihens wider.

Der dritte Teil des Gleichnisses zeigt die Folgen der Grausamkeit, die dem Unversöhnlichen, dem vergeben wurde, zugefügt wird. Der König erfährt von seinem Vorgehen, nimmt seine großzügige Vergebung zurück und übergibt ihn den Peinigern, „bis er seine ganze Schuld bezahlt hat“ (Mt18,34), die unbezahlbar ist.

Es ist unmöglich, die Kraft dieses Gleichnisses nicht zu spüren. Wir müssen nur seine richtige Auslegung kennen.

Was die allegorische Gestalt des Königs, der die Darlehen vergibt, bedeutet, hat der Herr selbst am Schluss des Gleichnisses ausgedrückt: „So wird auch mein himmlischer Vater mit euch verfahren“ (Mt 18,35). Dieser König ist also der Vater im Himmel. Dies bestimmt die Bedeutung aller Teile des Gleichnisses.

Was hat uns unser himmlischer Vater ausgeliehen? - Oh, so viel! Mehr als tausend Talente! Er gab uns Existenz und Leben, Körper und Seele, Geist, Herz und Sinne; er gab uns die Erde unter unseren Füßen, das schöne Zelt des Himmels über unseren Köpfen; er gab uns die Sonne zum Sehen und Leben, die Luft zum Atmen; er gab uns Tiere, über die wir herrschen, und verschiedene Werke der Erde für unsere Bedürfnisse und Vergnügen, für Nahrung, für Kleidung, für Unterkunft, für die Ausübung unserer Tätigkeit, um nützliche und angenehme Dinge zu produzieren. Wenn jemand sagen wird, es sei ziemlich vermessen, zu denken, dass die Erde, die Sonne und der Himmel uns gehören, so antworte ich: Wenn du zu Stolz bist, dies zu denken, so rate ich dir, deinen Stolz abzulegen und demütig und dankbar unserem göttlichen Wohltäter gegenüber zu sein, und nicht zu denken, dass der durch Stolz missbrauchte Gedanke deshalb aufhört, wahr zu sein.

Wenn du dann noch bemerkst, dass die Erde, die Sonne und der Himmel nicht nur von dir allein genutzt werden, sondern auch von unzähligen anderen Geschöpfen Gottes. Dann erwiderst du: Was ist damit? Um so wunderbarer, um so unermesslicher ist der Reichtum Gottes, dass er zwar von zahllosen Geschöpfen genutzt wird, aber auch von euch so genutzt wird, dass er vollkommen für euch vorbereitet und euren Bedürfnissen angepasst ist. Finde einen Weg, auf die Erde, die Sonne und den Himmel zu verzichten, und betrachte dich dann nicht als in Gottes Schuld stehend: und wenn du das nicht kannst, dann erkenne, dass jeder Sonnenstrahl, der dich erleuchtet oder wärmt, jedes Luftmolekül, den du beim Atmen aufnimmst, eine immer neue Anleihe aus den Schätzen Gottes ist - eine Anleihe, die beständig wächst, jede Minute erneuert wird und daher immer unbezahlbar ist. Doch leihen wir uns nur etwas vom Schöpfer aus den Schätzen der Schöpfung? Wie großzügig gewährt uns der allgütige Fürsorger aus den Schätzen seiner Vorsehung, jede Minute die Bewahrung unserer Kräfte und Fähigkeiten, Hilfe und Beistand in allen guten Dingen, Mittel und Hilfen zu einem bequemen und glücklichen Leben, gute und liebevolle Eltern, kluge Erzieher, einen gerechten und gütigen König, öffentliche Sicherheit, Erfolg in unserem Tun, unbemerkt erfolgte Befreiung aus Schwierigkeiten, wenn es offensichtlich ist, dass „die Hilfe von Menschen ist nutzlos” (Ps 59, 13). Und was sollen wir über Gottes weit aus wichtigeren und noch unschätzbareren Darlehen aus dem Reichtum der Gnade sagen? Uns Sündern, die wir verfinstert und verloren sind, hat der Herr das Licht des Glaubens, die Hoffnung auf Erlösung geschenkt; er hat unsere Erlösung vom ewigen Tod, dem wir durch die Sünde verfallen waren, durch den Tod seines eingeborenen Sohnes bezahlt; er hat uns seinen Heiligen Geist, die Taufe der Wiedergeburt, die unvergängliche Speise des Leibes und Blutes Christi als Unterpfand, Anfang, als Gabe des ewigen und seligen Lebens gegeben. Ach, wären wir Gott doch ewig dankbar, denn Gottes Wohltaten an uns sind zahllos und ewig!

Aber das ist nicht alles. Es gibt neue Schulden Gott gegenüber, die uns schmerzlich belasten und zutiefst herabwürdigen. Schulden, die dadurch entstehen und wachsen, dass wir das, was wir uns geliehen haben, zum Bösen verwenden und dem großen Kreditgeber oder, in seinem Auftrag, unseren Helfershelfern nicht zurückzahlen, soviel wir können. Schenken wir Gott immer gewisslich Ehre, Dankbarkeit, Gebet, Nächstenliebe, Mitleid mit den Armen und die mögliche Hilfe für die Bedürftigen? Nutzen wir die uns geliehenen Talente sorgfältig? Nutzen wir unsere Zeit immer für nützliche oder zumindest unschuldige Beschäftigungen, unser Verstand immer für die Wahrheit, strebt unser Herz immer zum Guten, mäßigen wir immer unsere Gefühle und halten sie rein in asketischer Enthaltsamkeit? Können wir uns rühmen, dass wir unsere Pflicht in dieser Hinsicht erfüllen? “Du, Herr, bist im Recht; uns aber steht bis heute die Schamröte im Gesicht“ (Dan 9, 7)!

Danach, liebe Brüder, lasst uns unseren, wie ich meine, gedämpften Blick auf das richten, was der Herr in seinem Gleichnis als die bedeutungslose Schuld von „hundert Pfennigen“ einschätzt, auf die Schulden unserer Nächsten um uns, auf ihre Übertretungen, die Ungerechtigkeiten oder Beleidigungen, die wir von ihnen erleiden. Wie klein, wie unbedeutend sind all diese Schulden, wenn wir unsere eigenen Schulden vor dem Allmächtigen ihnen gegenüber stellen! Jemand hat unachtsam unsere Ehre angetastet. Wir merken es vielleicht gar nicht, wenn wir mit dem durchaus gerechtfertigten Gedanken beschäftigt sind, wie oft wir es versäumen, dem großen und allgütigen Gott die gebührende Ehre und Herrlichkeit zu geben. Wenn jemand gegen uns ungerecht ist, ist es nicht schwer, es zu ertragen und zu vergeben, wenn wir bedenken, dass Gott es zugelassen hat, vor dem wir so oft, so schweres Unrecht getan haben. Wer nicht vergisst, dass er allein durch unendliche Barmherzigkeit nicht in das ewige Gefängnis geworfen wird, dem wird es schwer fallen, den Nächsten aus gekränktem Eigennutz oder Eigenliebe unnötig zu verfolgen.

Aber wenn wir, Christen, zu unserer Schande uns vergessen und weder denen nicht verzeihen, denen verziehen wird, noch jenen vergeben, denen vergeben wird, dann sollten wir uns beeilen, uns daran zu erinnern, daß der König des Himmels alles sieht. Der uns am nächsten stehenden Mitstreiter, unser Gewissen, vor dem wir uns nicht verbergen können, wird gegen uns vor ihm Zeugnis ablegen. Also müssen wir ständig dessen erinnern, bis endlich der Tag kommen wird, an dem der Langmütige „seinem Zorn freien Lauf läßt“ (Ps 78, 50), d. h. Recht gesprochen wird; dass der Vorwurf des himmlischen Richters, den wir bereits hören und den wir noch als Mittel der Zurechtweisung und des Heils an uns selbst richten können, dann als Instrument des Gerichts und der Bestrafung durch unsere ungeheilte Seele gehen wird: „Ist es dir nicht recht, dich auch deines Mitstreiters zu erbarmen, wie ich mich auch deiner erbarme?“

Um eine rechte Schlussfolgerung aus diesen Worten zu ziehen, ist es notwendig, auf den Schluss des Gleichnisses unseres Herrn zu hören: „Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt.“ (Mt 18,35). „Von ganzem Herzen“: Darin liegt der Sinn der Lehre von der Vergebung gegenüber den Sündern und die Auflösung eventueller Missverständnisse. Vergebt von ganzem Herzen: nicht nur äußerlich, auch nicht heuchlerisch. Vergebt von ganzem Herzen: und alles ist getan, auch wenn danach äußere Handlungen von euch verlangt werden, die offensichtlich nicht Vergebung, sondern Bestrafung ausdrücken. Ein Schuldner, der nicht arm, sondern böse ist, kann im Geiste der Vergebung ins Gefängnis gesteckt werden, wie in ein Spital, um ihn von der Pestilenz der Bosheit zu heilen. Auch ein König oder Richter verstößt nicht gegen das Gebot der Vergebung der Sünder, wenn er die Strafe für den Schuldigen bestimmt, nicht um an ihm Rache zu üben, sondern um ihn zu bessern und Unschuldige vor seinen Verbrechen zu schützen. So weint die gute Mutter und ergreift die Rute gegen das widerspenstige Kind: Zweifellos rächt sie sich in diesem Fall nicht, sondern liebt verständnisvoll. Vergebt von ganzem Herzen und mit Liebe dem Sünder und wenn ihr könnt oder genötigt seid, berichtigt ihn besonnen und liebevoll. Amen.

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