Archimandrit Sofroni (Sacharow)
Dazu möchte ich noch ein Weiteres erwähnen. Es ist in meinem Bekanntenkreis geschehen. In einer europäischen Stadt heirateten zwei Brüder fast zeitgleich zwei junge Frauen. Eine von ihnen war Doktor der Medizin, hochbegabt undhatte einen starken Charakter. Die andere, äußerlich hübscher, lebendig, intelligent aber nicht zu intellektualisiert. Als die Zeit der Geburt für beide kam, suchten sie die vor kurzem bekannt gewordene Theorie von der „schmerzlosen Geburt” sich zunutze zu machen.
Die Ärztin hatte rasch den Mechanismus dieses Aktes begriffen und nach zwei, drei Übungsstunden sich mit einer bestimmten Gymnastik vertraut gemacht in der Hoffnung, dass sie das Gelernte im notwendigen Augenblick anwenden könne. Die andere junge Frau hatte eine recht primitive Vorstellung von der anatomischen Struktur ihres Körpers und wollte sich nicht theoretisch damit befassen, sondern beließ es einfach bei der Wiederholung der vorgeschriebenen Bewegungen ihres Körpers. Hinreichend geübt, erwartete sie die Geburt. Und was meinen sie? Als die erste in die Wehen kam, vergaß sie alle Theorie und gebar mit großer Mühe, „mit Schmerzen”, wie es in Genesis 3,16 heißt. Die zweite ohne Schmerzen und beinahe ohne Mühe. So wird es auch mit uns geschehen. Die „Mechanik” des geistigen Gebetes ist für den modernen gebildeten Menschen leicht zu verstehen. Er braucht nur zwei, drei Wochen mit entsprechender Hingabe zu beten, einige Bücher zu lesen und schon kann er zu dem Gelesenen seine eigene Erfahrung hinzufügen. Aber in der Stunde des Todes, wenn das ganze kunstvolle Werk unseres Daseins gewaltsam zerbricht, wenn das Gehirn die Klarheit und das Herz vor starken Schmerzen oder Schwäche seine Kraft verliert, dann werden alle unsere theoretischen Kenntnisse dahin sein, und das Gebet kann versiegen.
Wir sollten es durch viele Jahre hindurch üben. Wenig und nur das zu lesen, was mit dem Gebet und seinem Inhalt in Zusammenhang steht, fördert die verstärkte Hinwendung zum bußfertigen Beten bei innerer Konzentration des Geistes. Aus dem langen Gebrauch des Gebetes erwächst unserm Wesen eine neue Natur, eine natürliche Reaktion auf alle Erscheinungen in der geistlichen Welt:
Es handele sich um Licht oder Finsternis; um die Erscheinung heiliger Engel oder dämonischer Kräfte, um Freude oder Leid, mit einem Wort zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Mit Hilfe solchen Betens wird unsere Geburt für die obere Welt wirklich „schmerzlos” werden.
Kurz ist das Buch im Neuen Testament, das uns die letzten Tiefen des anfanglosen Seins schauen lässt; die Theorie des Jesusgebetes bedarf keiner Länge. Die unter irdischen Bedingungen uns von Christus gewiesene Vollkommenheit ist unerreichbar. Und die Menge der Übungen durch die der Kundige dieses Gebetes geht, lässt sich nicht beschreiben. Die Verrichtung dieses Gebetes lässt auf seltsame Weise den Geist des Menschen „mit Kräften” zusammentreffen, die „im Kosmos” verborgen sind. Dieses Gebet im Namen Jesu fordert den Kampf dieser kosmischen Kräfte heraus, besser gesagt, „mit den Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel” (Eph 6,12).
Dieses Gebet erhebt den Menschen in Sphären, die jenseits der irdischen Weisheit liegen und, verlangt in seinen höchsten Ausformungen „einen Engel als treuen Unterweiser.”
Seinem Wesen nach steht das Jesusgebet über allen äußeren Formen, praktisch aber, infolge unserer Unfähigkeit, im „reinen Geist” lange Zeit zu verharren, benutzen die Gläubigen als Hilfsmaßnahme eine Gebetskette. Auf dem heiligen Berg Athos ist eine am weitesten verbreitet, die hundert Knoten in vier Abteilungen, jede zu je 25 enthält. Die Zahl der Gebete und der Verbeugungen am Tage und in der Nacht richtet sich nach der Kraft eines jeden und nach den jeweiligen Lebensumständen.