
Wenn heilige Menschen das irdische Leben verlassen, möchten wir erfahren, was sie uns hinterlassen haben. Starez Nikolaj hat uns sein Testament in Form des Buches «Das Wort des Lebens» hinterlassen.
Mit blassen Lippen
sang der Priester die WORTE,
Traurigen Auges schauend
auf diese eitle Welt.
Die Tasten wohl vertraut
Den ungesunden Fingern,
In Stille sich vergrabend,
als hätten selbst sie uns gesungen.
Und ach wie stark ist in den Klängen
Ein unaussprechlich großer Schmerz...
So sahen seine Mitmenschen den Starez von Salit, Erzpriester Nikolaj Gurjanov. Vater Ioann Mironow erinnert sich daran, wie der Starez es liebte, mit den Pilgern geistliche Lieder zu singen, wobei er selbst auf dem Harmonium spielte. “Und wir werden gemeinsam weinen und beten – das ist so gut für die Seele", sagt Vater Ioann. Der Vater hat sein ganzes Leben lang Psalmgesänge gesammelt. Ich bat ihn, alles mitzubringen, was man in den vorrevolutionären Büchern für den Volksgesang finden kann. Viele Gesänge hat er selbst mit Noten unterlegt. Ich habe dem Professor der Leningrader Geistlichen Akademie N. D. Uspenskji, einem Liturgiewissenschaftler, das Manuskript von Vater Nikolaj gezeigt. Er hat es genehmigt. Das Väterchen segnete dann die Veröffentlichung des Buches «Das Wort des Lebens». Es wurde bereits dreimal neu veröffentlicht. Darin steckt das ganze Leben des Starzen. Er vergaß keine Minute, so wie wir Sünder, dass man sein ganzes Leben mit Gott und wegen Gott lebt."
Nach diesen Worten von Vater Ioann haben wir versucht, das «Wort des Lebens» auf eine neue Weise zu interpretieren.
Nun wage ich es, darüber zu schreiben, was sich beim Lesen in Gebetsatmosphäre offenbart hat. Ja, das Buch des Starzen kann nicht wie ein gewöhnlicher Sammelband von Gedichten gelesen werden, bei dem man in ästhetische Verzückung gerät. Im Allgemeinen sollte dieses Buch auch nicht – wie es leider einige tun – aus künstlerischer Sicht bewertet werden. Dafür wurde es nicht gesammelt, zusammengestellt und herausgegeben. Aber wofür dann?
So sagte zum Beispiel der geistliche Sohn des Starzen Priestermönch Nestor (Kumysch): “Sie haben bemerkt, dass Vater Nikolaj oft gefragt hat: Haben Sie mein Buch? Und er hat es geschenkt, wenn derjenige es nicht hatte. Und er fügte hinzu: Sing daraus. Ich habe es an mir selbst erlebt – welche gnädige Hilfe die Gesänge aus dem Buch "Wort des Lebens" leisten. Jeder Mensch, der ein geistliches Leben führt, kennt Zeiten der Entmutigung. Es ist der schlimmste Zustand, wenn du nicht einmal beten kannst. Und genau dann hilft das Singen dieser unkomplizierten, auf den ersten Blick einfachen Lieder. Durch sie erhälst du den Segen des Starzen, seine Hilfe. Weil sie den Kampf widerspiegeln, den er selbst durchlitten hat, und uns erlauben, sich mit seinen Erfahrungen bei der Überwindung menschlicher Schwäche durch die Gnade Gottes zu verbinden.”

...Folge der göttlichen Spur
Auf den Wogen meines Herzens,
Es schweigt vor Dir
Und kostet Deinen Frieden.
… im Geist, von Trübsal eingeengt,
lastet die Traurigkeit so bleiern,
Und so trag’ ich im ird’schen Leib
mein ach so schweres Kreuz.
Alles, was im «Wort des Lebens» gesammelt wird, ist ein Zeugnis für die Gnade Gottes. Es ist eine fortlaufende Geschichte darüber, was Gnade ist und wie sie im Menschen wirkt. Daher sind diese Verse mit keiner weltlichen Poesie vergleichbar: Dort steht das «Ich» des Autors an erster Stelle, und hier ist es die Gnade Gottes. Und selbst die in der Sammlung enthaltenen Werke von M. Lermontow, G. Derschawin, A. Chomjakow, F. Glinka, J. Smeljakow werden verwandelt – sie werden in einer andere Abfolge gestellt, nicht jene, in der sie normalerweise existieren und den schöpferischen Weg eines bestimmten Dichters widerspiegeln. Im »Wort des Lebens" ist es nicht wichtig, wer diese Gedichte geschrieben hat, sondern worum es geht. Dieses Buch ist als Denkmal für eine gemeinsame und allumfassende Kreativität geschaffen. Ich erinnere mich, wie wir zusammen mit den Kindern «Oh, die wunderbare Insel Walaam» auf dem Deck des Schiffes sangen, als wir in die Klosterbucht einfuhren. Es fühlte sich an, als ob wir durch diesen Gesang mit früheren Generationen kommunizieren würden, mit denen, die vor uns diese Worte an derselben Stelle sangen. Mit den gleichen Gefühlen singen die Pilger das Lied "Berg Athos, Heiliger Berg", wenn sie zum Panteleimon-Kloster auf dem Heiligen Berg fahren. "Lebe wohl, Du heiliges Kloster" - dieses Lied wurde von altgewordenen Nonnen gesungen, die sich an ihr nun geschlossenes Kloster erinnerten, das sie verlassen mussten. Mit diesem Gesang wurden der jungen Generation jene Erfahrungen übermittelt, die die Bekenner Christi in unserem Land zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts machten.
Unser tiefer, tiefer Dank gilt Vater Nikolaj, weil er all diese Seufzer der Volksseele gesammelt und unter einem Buchdeckel vereint hat. Sie sind die Wahrheit über das Volk von Russland, über das, was seit fast einem Jahrhundert so fleißig zerstört wird. Im "Wort des Lebens" klingt die unkomplizierte, reine Volksstimme der einfachen Gemeindemitglieder, von denen es nur noch so wenige gibt... Schließlich sind wir eine junge Generation – im Grunde alles «kluge Leute», trockene Rationalisten, Ästheten, «Theologen» und andere Experten. Aber wir brauchen die Mahnung, dass die Hauptsache im Leben nicht irgendwelche «Leistungen» sind, sondern Zuneigung, Wärme, Liebe, Nächstenliebe, allgemeine Aufmerksamkeit gegenüber allen Menschen.
All diese Gesänge sind ein Geschenk für uns, die wir gefangen in «versteinerter Unempfindlichkeit» sind. Sie können – wenn sie sie singen und nicht wie ein gewöhnliches Gedichtbuch lesen - die Seele aufrütteln, sie aufwecken, sie erweichen. Im "Wort des Lebens" entsteht vor unseren Augen ein Bild von Volkselend: Waisen, Witwen, Obdachlosigkeit, Trunkenheit. Wir sehen die Bilder des furchtbaren Leidens des Gottmenschen, Seiner Mutter, Seiner Heiligen. Wir hören Worte des Trostes an alle Leidenden und Entmutigten, die Aufforderung, «von der Vergänglichkeit der Erde zur Ewigkeit des Himmels» zu streben. Und es ist so gut, wenn die Gemeindemitglieder während der Priesterkommunion alle zusammen singen... Um Stichiren, Kanones und Troparien zu singen, müssen Sie Noten lesen können, auch kirchenslawisch sollte man kennen. Nicht jeder kann sich das aneignen, aber diese einfachen Wörter, zu einer einfachen Melodie gesungen, sind für allen zugänglich.

Der Geist des Buches von Vaters Nikolaj kann mit dem des heiligen Siluan vom Berg Athos verglichen werden – es ist das gleiche “Vor-dem-Schöpfer-stehen” für die ganze Welt, es ist die «Klage des Adam» für alle und für alles, es ist die Beweinung des irdischen Lebens angesichts des bevorstehenden Todes und des Gerichts.
Mein Jahrhundert verging wie der gestrige Tag,
Wie Rauch verweht, verflog mein Leben
Und ach die furchtbar schweren Todesschranken,
Sind nicht mehr weit entfernt von mir.
Oft wiederholte der Starez diese Zeilen den Pilgern, die zu ihm kamen. Er schickte sie dann, zum Beten auf den Friedhof, gegenüber seinem Haus, wo das Grab seiner Mutter und jetzt auch sein Grab war. Dort kommt einem das Lied «Auch wir werden einst so sein...» in den Sinn.
Finde heraus, woher du kommst und wer du bist,
Warum du kamst, wohin du gehst.
Dass du erhaben bist und doch ein Nichts,
Bist unsterblich du und findest doch bald ewge Ruh’.
Wenn wir das «Wort des Lebens» durchblättern, lauschen wir den Gesprächen des Starzen mit dem Herrn. Sie sind aus dem Wunsch heraus geboren, um gesungen zu werden, um zu verherrlichen, was teuer ist, um zu beweinen, was belastet. In ihnen befindet sich eine lebendige Seele. Sie zeigen uns, was eine lebendige Seele ist, eine Seele, die «Gott vermisst und tränenreich nach Ihm sucht». Eine Seele, die »im Schweigen rennt«, der es nicht ausreicht, nur die Regeln zu befolgen, sie dürstet danach, dem Schöpfer und Vater alle ihre Bewegungen darzustellen – sowohl die traurigen als auch die durch sündhafte Besessenheit bedrückenden oder die fröhlichen. Das "Wort des Lebens« ist ein Gespräch mit seiner Seele, es ist, wie im Vorwort des Buches geschrieben steht, »eine Predigt an sich selbst".
Hier ist er, der sel’ge Eremit, der Suchende
In dieser Zeit nach überird’schen Gütern.
Hier ist er, in Trauer jubelnd, so wie wir im Glück,
bereit, die Seele für die Anderen zu geben!
...Durch gnadenvolle Macht ist er beschenkt:
Mit erleuchteter Seele erblickt er weit Entferntes,
Sieht menschliche Geschwüre, unverständlich,
Hört Schreie er - und jeder tut ihm leid...
Er lehrt, zu suchen unvergänglichen Besitz,
Damit nicht Hast die Seele nun beherrscht –
Denn keine Schätze dieser ach begrenzten Welt
Könnten in uns’rer Seele Christus je ersetzen!
Wenn du dieses Gedicht von Leonid Denisow über den heiligen Seraphim aus dem Buch «Das Wort des Lebens» singst oder liest, siehst du nicht nur den in der Herrlichkeit des Vaters seienden Heiligen, sondern auch den uns zum Trost geschenkten demütigen Starzen Nikolaj von der Insel Talabsk. Dieser sprach am Ende des Buches über sich selbst:
Und ich? Am frühen Morgen schon,
Steh ich vor den Ikonen,
um für euch Gottes Hilfe zu erflehen,
Mit Hoffnung, Glauben und mit Tränen.
So bitte ich den Unermesslichen,
von euch noch nicht erkannt,
dass Er vor Ärger uns errette,
Familie, Freunde und auch Sie.
“Vater Nikolaj ist für uns wie ein Rettungswagen”, sagte einmal ein Pilger zu mir, “und er half nicht nur bei einer persönlichen Begegnung, sondern auch durch die Worte, die aus seiner Seele kamen und die im "Wort des Lebens" mit Noten unterlegt wurden." Er hilft auch nach seinem glückseligen Ende.