Predigt am 32. Sonntag (Lk 18, 35-43)

30. January 2022

Metropolit Antonij von Surosch

Gemälde “Die Heilung des blinden Bartimäus”

Gemälde “Die Heilung des blinden Bartimäus”

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!

Ich glaube, einer der Gründe, die uns daran hindern, wirklich wir selbst zu sein und unseren eigenen Weg zu finden, ist, dass wir nicht erkennen, inwieweit wir blind sind! Wenn wir nur wüssten, dass wir blind sind, wie eifrig würden wir nach Heilung suchen: auch wir sollten dies tun. So, wie es Bartimäus wahrscheinlich getan hat, Heilung suchen bei Männern, Ärzten, Priestern, Heilern ; und dann, nachdem wir alle Hoffnung verloren haben "auf Fürsten, auf Menschenkinder, bei denen es Heil nicht gibt", könnten wir uns vielleicht an Gott wenden. Die Tragödie ist jedoch, dass wir unsere Blindheit nicht erkennen: Es springen uns zu viele Dinge in die Augen, als dass wir uns der Unsichtbarkeit bewusst werden könnten, für die wir blind sind. Wir leben in einer Welt der Dinge, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und sich behaupten: Wir brauchen sie nicht zu bejahen, sie sind einfach da. Dinge, die unsichtbar sind, behaupten sich nicht - wir müssen sie suchen und entdecken. Die Außenwelt fordert unsere Aufmerksamkeit, Gott dagegen bittet uns ganz schüchtern. ...

Von der Welt der Dinge geblendet vergessen wir, dass sie nicht der Tiefe entspricht, zu der der Mensch fähig ist. Der Mensch ist klein und groß zugleich. Wenn wir an uns in einem sich immer weiter ausdehnenden Universum denken - unermesslich groß oder unendlich klein -, sehen wir uns als einen Staubfleck, gebrechlich, ohne Bedeutung. aber wenn wir uns nach innen wenden, entdecken wir, dass nichts in dieser Unermesslichkeit groß genug ist, um uns bis zum Rand zu füllen - die gesamte geschaffene Welt fällt wie ein Sandkorn in die Tiefe unseres Seins: Wir sind zu groß, um uns zu füllen oder erfüllen zu lassen. Das kann nur Gott allein, der uns für sich selbst nach seinem Maß geschaffen hat. <…>

Die Welt der Dinge hat eine Undurchdringlichkeit, eine Dichte, ein Gewicht und ein Volumen, aber keine Tiefe. Wir können immer ins Herz der Dinge vordringen, und wenn wir ihren tiefsten Punkt erreicht haben, ist es ein Endpunkt, es gibt keinen Weg bis ins Unendliche: Das Zentrum einer Kugel ist ihr innerster Punkt, aber wenn wir versuchen, darüber hinauszugehen zu den Antipoden, kehren wir an die Oberfläche zurück. Die Heilige Schrift spricht jedoch von der Tiefe des menschlichen Herzens. Es ist keine Tiefe, die gemessen werden kann; sie ist von Natur aus unermesslich und geht über alle Messgrenzen hinaus. Diese Tiefe wurzelt in der Unermesslichkeit Gottes. Erst wenn wir den Unterschied zwischen einer Präsenz, die sich selbst behauptet, und einer Präsenz, die wir suchen müssen, verstanden haben, weil wir es in unseren Herzen spüren, können wir den Unterschied zwischen der schweren, undurchsichtigen Dichte der Welt um uns herum und der menschlichen  Tiefgründigkeit, die nur Gott ausfüllen kann. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Tiefe jedes geschaffenen Dings dazu berufen  ist, der Ort der göttlichen Gegenwart zu werden, wenn Gott alle Dinge vollbracht hat und alles in allen Dingen sein wird. Erst dann können wir unsere Suche in dem Wissen beginnen, dass wir blind sind, blind vom Sichtbaren, was uns daran hindert, das Unsichtbare zu erfassen. Für das Unsichtbare blind zu sein, sich nur der greifbaren Welt bewusst zu sein, bedeutet, außerhalb der Fülle des Wissens zu sein, außerhalb der Erfahrung der totalen Realität, die die Welt in Gott und Gott im Herzen der Welt ist. Der blinde Bartimäus war sich dessen schmerzlich bewusst, weil ihm aufgrund seiner körperlichen Blindheit die sichtbare Welt entging. Er konnte verzweifelt zum Herrn schreien, mit all der verzweifelten Hoffnung, die er verspürte, als die Erlösung an ihm vorbeiging, weil er sich abgeschnitten fühlte. Der Grund, warum wir allzu oft nicht auf diese Weise zu Gott rufen können, ist, dass wir nicht erkennen, wie sehr wir abgeschnitten sind, wenn wir blind sind für die Gesamtschau der Welt - eine Schau, die der sichtbaren Welt selbst die vollständige Realität ermöglichen könnte. Wenn wir nur lernen könnten, blind für das Sichtbare zu sein, um das Unsichtbare, in und um uns herum, das alle Dinge mit seiner Gegenwart durchdringt, in seiner ganzen Tiefe zu erblicken!

Blindheit ist vielfältig: Sie kann, nicht bei uns, aber bei den Heiligen entstehen, wenn sie ein zu helles Licht gesehen haben. Der heilige Symeon, der neue Theologe, spricht von der göttlichen Dunkelheit und sagt, es sei ein Überschuss an Licht, an einem Licht, das so blendend ist, dass derjenige, der es gesehen hat, nichts mehr sieht. Es kann auch Blindheit mit offenen Augen sein. <…> Wir können mit den Augen der Gleichgültigkeit sehen, wie die Passanten Bartimäus sahen. Wir können mit den Augen der Gier sehen, wie der Vielfraß bei Dickens, der, als er Vieh auf den Feldern weiden sah, nur "lebendes Rindfleisch" denken konnte! Wir können mit den Augen des Hasses sehen, wenn wir schrecklich hellsichtig werden, aber mit der Scharfsinnigkeit des Teufels, nichts als das Böse sehen und ein abscheuliches Zerrbild aus den Dingen machen. Und zuletzt können wir mit den Augen der Liebe sehen, mit einem reinen Herzen, das Gott und sein Bild in den Menschen sehen kann. Gerade dort, wo sein Bild verdunkelt ist - durch Schichten von Äußerlichkeiten und Gegenargumenten, hin zum wahren, tiefen, geheimen Selbst des Menschen. <…>

In dem Moment, in dem wir erkennen, dass wir blind sind und uns daher außerhalb des Königreichs befinden, können wir uns in Bezug auf das Königreich und auf Gott einen Zustand einnehmen, der real ist. Nicht dieser imaginäre Zustand, in dem wir uns ständig draußen auf der Straße befinden und uns die ewige Wohnstätte vorstellen, versuchend, unsere Hände am Feuer zu wärmen, das im Kamin auf der anderen Seite der Tür brennt, sich hier und jetzt zu bemühen, an dem Leben teilzuhaben, das noch außerhalb unserer Reichweite ist, und sich schon vorzustellen, dass der winzige Funke, der in uns scheint, schon das ganze Königreich wäre. Es ist noch nicht das Königreich, es ist nur eine ernste Zusage des ewigen Lebens, ein Versprechen, ein Aufruf an uns, in der Hoffnung weiterzumachen, wenn wir dort stehen, wo wir, wie das Evangelium sagt, anfangen sollen: vor einer Tür, die für uns noch verschlossen ist, nie müde werdend, daran zu klopfen, bis sie sich öffnet. Wir müssen vor dem Geheimnis Halt machen, das noch nicht durchdrungen ist und rufen, nach Gott schreien und den Weg suchen, bis er sich wie ein gerader Weg zum Himmel vor uns entfaltet, in der Gewissheit, dass der Moment kommen wird, in dem Gott unser Gebet gewährt. Ich sage absichtlich nicht 'erhört', weil wir immer gehört werden, obwohl uns nicht immer eine wahrnehmbare Antwort gegeben wird. Gott ist nicht taub für unsere Gebete, aber wir sind nicht immer in der Lage, Gottes Schweigen als Antwort auf unseren Schrei zu verstehen. Wenn wir erkennen würden, dass wir vor einer verschlossenen Tür stehen, könnten wir sowohl unsere menschliche Einsamkeit messen als auch, wie weit wir noch von der Freude entfernt sind, zu der wir berufen sind, von der Fülle, die Gott uns bietet, und gleichzeitig schätzen - und das ist sehr wichtig - wie reich wir trotz unserer unendlichen Armut sind. Wir wissen so wenig von den Dingen Gottes, wir leben so wenig in ihm, doch wie viel Reichtum für uns in diesem Funken der Gegenwart, des Wissens, der Gemeinschaft strahlt im Herzen der Dunkelheit, das wir sind! Wenn die Dunkelheit noch so reich an Licht ist, wenn die Abwesenheit so reich an Gegenwart ist, wenn das Leben, das nur dämmert, so voll ist, mit welcher Hoffnung, mit welcher zunehmenden Freude können wir vor dieser verschlossenen Tür stehen, mit dem glücklichen Gedanken, das sie sich eines Tages öffnen wird und wir einen Ausbruch des Lebens erkennen werden, wie wir ihn noch nicht in uns aufnehmen können.

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