Briefe an meine geistlichen Kinder. Teil 11

29. Dezember 2021

Briefe an meine Geistlichen Kinder

IGUMEN NIKON (WOROBJOW)

Briefe an Menschen in Kozelsk, die einen monastischen Weg gewählt haben

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W. hat mir geschrieben, dass du nach meinem Brief drei Tage geweint habest. Ich freue mich, dass du Tränen vergossen hast, wenn deine Tränen von Gott waren, nicht aber, wenn du aus gekränkter Selbstverliebtheit geweint haben solltest. Ich wünsche dir von ganzer Seele, dass du deine Sünden sehen lernst und wegen ihrer nicht nur drei Tage Tränen vergießt, sondern das gesamte Leben hindurch bis zum Tode, um nicht nach dem Tode auf ewig weinen zu müssen.

Sowohl wegen unseres Alters als auch wegen unseres Gesundheitszustandes können wir auf ein baldiges Ende gefasst sein. Dann werden wir also vor den Richter gestellt, der niemanden bevorzugt oder benachteiligt und alle unsere Geheimnisse kennt. Wie wird er über uns entscheiden? Wie werden wir uns vor ihm rechtfertigen können? Es gibt nur ein einziges Mittel: Solange wir noch am Leben sind, müssen wir unsere Unwürdigkeit vor Gott und vor den Menschen einsehen lernen und uns aufrichtig eingestehen, dass wir unnütz und zu nichts zu gebrauchen sind. Wir sollten uns bewusst werden, dass wir Gott unendlich viel schuldig sind und folglich kein Recht haben, irgendetwas von den Menschen zu fordern. Das sollten wir wissen, deshalb sollten wir weinen! Wir sollten noch hier um Barmherzigkeit und Vergebung unserer unbezahlten Schuld bitten. Wir sollten ebenso darüber Tränen vergießen, dass wir verschwenderisch alle unsere seelischen und leiblichen Kräfte vergeudet haben und die Liebe Gottes in einem fort beleidigen. Wir sollten darum bitten, dass der Herr uns nach dem Tode unsere Sünden und Vergehen nicht vorhält, sondern in seinen Gemächern aufnimmt, wie er auch den Verloren Sohn angenommen hat. Darüber sollten wir uns sorgen.

Jeden Tag vor dem Schlafengehen sollten wir uns prüfen und über alle unsere Übertretungen der Gebote, zu denen wir uns im Laufe des Tages haben hinreißen lassen, traurig sein. Wir sollten unser gesamtes vergangenes Leben vor Augen haben und alles bereuen. Wir sollten dies solange tun, bis wir wahrhaft verspüren, dass der Herr uns unsere vergangen Sünden vergeben hat. Dabei sollten wir den Herrn von ganzem Herzen bitten, dass er uns auch in Zukunft helfen möge, nicht zu sündigen, um ihn nicht erneut mit weiteren Missachtungen seines heiligen Willens, den er in seinen Geboten zum Ausdruck gebracht hat, zu kränken. Mit allen Mitteln sollten wir uns davor hüten, unsere Mitmenschen zu beleidigen, denn es ist leichter, sich mit Gott zu versöhnen, als mit seinem Nächsten. Übe dich vor allen in Demut und bemühe dich, allen zu dienen. Tadle niemanden, richte nicht und verurteile auch keinen. Versöhne dich mit allen, verzeih allen, denn sonst wird dir selbst vom Herrn nicht vergeben werden. Diese Bedingung hat der Herr selbst gegeben: wenn ihr den Menschen ihre Sünden nicht vergebt, dann wird auch euer Vater im Himmel euch eure Sünden nicht vergeben (Mt. 6,14.15).

Bringe in der gerade begonnenen Fastenzeit Ordnung in dein Leben. Versöhne dich mit den Menschen und mit Gott. Betrauere deine Sünden und weine über deine Unwürdigkeit und Verdorbenheit. Dann wirst du Vergebung erlangen und Hoffnung auf dein Seelenheil hegen können. Ein zerknirschtes und demütiges Herz wird der Herr nicht zermalmen. Ohne ein solches Herz können dir auch keine Opfer und Almosen helfen. „Wenn du Opfer wolltest, dann würde ich es dir darbringen. Brandopfer gefallen dir nicht. Das Opfer für Gott ist ein zermürbter Geist“ (Ps. 51,17). „Einer der über seine Sünden weint, ist mehr wert, als jemand, der Tote zum Leben erwecken kann“ – schreibt der Heilige Isaak der Syrer.

Bitte den Herrn mit all deiner Inbrunst um das, was unter den Gaben Gottes das Größten und Wichtigsten ist, seine Sünden zu erkennen und wegen ihrer zu weinen. Derjenige, der diese Gabe hat, der hat alles.

Möge der Herr dir Einsicht schenken und dich segnen!

Einen lieben Gruß und den Segen Gottes an alle.

***

„Derjenige, der sowohl gerechtfertigte als auch ungerechtfertigte Kritik an sich selbst von sich weist, weist sein Seelenheil zurück“. Derjenige, der es vermag, seine Sünden zu sehen, sieht nicht nur einzelne seiner Sünden, sondern erkennt die vollständige Verdorbenheit seiner Seele. Er versteht, wie aus ihr in einem fort die verschiedensten Sünden hervorgehen. Er sieht aber noch mehr: nämlich, dass sogar seine sogenannten „gute Taten“ mit dem Gift der Sünde durchsetzt sind. Wenn ein Mensch dies klar erkennt und eindeutig begreift, weil tausendfache Erfahrung ihn davon überzeugt hat, dass er den Aussatz seiner Seele nicht selbst zu heilen vermag, dann gelangt er auf natürlichem Wege (nicht aber durch künstliche Mittel oder Selbstsuggestion) zur Demut und hört ganz natürlich auf, andere zu verurteilen oder beleidigt zu reagieren.

Er nimmt dann in den anderen Menschen nur eine ebensolche Verdorbenheit wie seine eigene wahr und beginnt die anderen als Leidensgenossen zu bemitleiden. Er hört so auf, die einen in den Himmel zu heben und andere zu erniedrigen. Er richtet so überhaupt niemanden mehr, denn einerseits befinden sich alle im gefallenen Zustand und andererseits sind die Maßstäbe, nach denen Menschen andere beurteilen, verlogen, wie sehr man sich auch um Objektivität bemüht. Wie kann sich ein Mensch dann noch in seinen Sünden rechtfertigen? Wie kann er beleidigt sein, wenn ihn jemand für etwas anklagt, wofür ihn angeblich keine Schuld trifft, wenn er doch weiß, dass unendlich viele der abscheulichsten Sünden auch seine eigenen sind, von denen nur dank der Barmherzigkeit Gottes, der unsere Sünden zudeckt, niemand weiß.

Wir sollten uns nicht durch angebliche Tugenden trösten, sondern nur durch die unfassbare Liebe Gottes zu uns gefallenen Menschen, durch das Kreuz Christi und dadurch, dass „wir ein Abbild seiner unsagbaren Herrlichkeit sind, wenn wir auch die Wunden unserer Sünden tragen“. Jesus Christus ist auf der Erde erschienen, um das „gefallenen Abbild wiederherzustellen“. Ihm sei deshalb von seiner gesamten Schöpfung her ewiger Dank mit seinem Vater und dem Heiligen Geist!!!

Mögen deshalb vor ihm alle unsere Tugenden verschwinden und wir gemeinsam mit dem Zöllner aus der Tiefe des Abbildes Gottes in uns ausrufen: „Gott, sei mir Sünder gnädig, Gott sei uns allen Sündern gnädig“. Dann werden wir gerechtfertigt aus diesem Leben scheiden, wie der Zöllner gerechtfertigt aus dem Tempel trat. Dann werden wir uns einreihen dürfen in die Herde der Schafe und werden ewige Weide finden.

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