Briefe an meine geistlichen Kinder. Teil 29

28. Juni 2022

geistlichen kinder

IGUMEN NIKON (WOROBJOW)

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Ich habe deinen Brief bekommen und habe tiefes Mitgefühl mit dir. Ich könnte dir auf deine Zweifel und Verbitterung hin vieles sagen, aber ich bin kein Meister der Feder. Du hast dir einen Weg fürs Leben ausgesucht, der in unserer Zeit besonders schwer ist. Wenn du ihn bis zum Ende gehst – all das Leid, das dich erwartet, werde ich dir nicht nennen, denn es wird vergessen sein, wenn es dir millionenfach vergolten wird – wirst du es schade finden, dass du nicht mehr hast leiden dürfen. Es kann sein, dass es dir komisch vorkommt, doch so ist es. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sogar die alten großen Märtyrer es schade finden, dass sie wenig gelitten haben und Gott auf diese Weise nicht mit der Ihm gebührenden Liebe antworten konnten, mit der sie dem Herrn eigentlich hätten antworten wollen.

Selbst die Liebe zu einem Menschen strebt dazu, für den Geliebten etwas Angenehmes zu tun, egal was es für Opfer kostet. Je stärker man liebt, umso stärker ist das Bestreben, seine Liebe zu beweisen. Uneigennützige Liebe kann man aber nur durch ein Opfer beweisen. Von daher kennt auch wahre Liebe keine Grenzen, wie auch der Wunsch, als Zeichen der Liebe zu opfern, keine Grenzen kennt. Wer Gott liebt, der möchte für Gott leiden. So wie die Liebe zu Gott wächst, wächst auch der Wunsch, alles ertragen zu wollen, nur um nicht vom Herrn getrennt zu werden, nur um Ihm nahe zu sein. Gott nicht zu lieben ist aber unmöglich, wenn wir uns Ihm nähern, oder genauer gesagt, wenn Er sich uns nähert.

Man könnte meinen, dass der Wurm, der niemals schläft und das Feuer, das niemals erlöscht, im zukünftigen Leben jenem endlosen Kummer des Herzens entspricht, der da sein wird, wenn wir erkennen werden, dass wir zwar die Zeit hatten, unsere Liebe zum Herrn unter Beweis zu stellen, dies aber nicht getan haben. Wir hätten es aber tun können, wenn wir bereit gewesen wären, verschiedene Leiden um Seiner willen zu ertragen, um durch diese Leiden nicht nur unsere Liebe, sondern auch unseren Glauben an Ihn zu zeigen, inmitten diverser Zweifel und Ängste, geistlicher Einsamkeit und des Bewusstseins unserer Hilflosigkeit und Kraftlosigkeit usw. Der Schmerz darüber, dass wir ihm es nicht bewiesen haben, wird dann groß sein. ...

Denn hier auf der Erde kann man und muss man seine Liebe zu Ihm durch seine innere Entschiedenheit beweisen: „Ich werde an Dich glauben und mit all meiner Kraft Deine Gebote erfüllen. Ich werde für den Glauben an Dich leiden und allem und allen entsagen, einem Privatleben, Verwandten usw. Nur Du, Herr, entsage Dich mir nicht! Lass nicht zu, dass ich meinen Glauben und meinen Mut verliere! Lass nicht zu, dass ich gegen Dich aufbegehre, wenn mich und meine mir nahe stehenden Menschen schwere Leiden und Kummer überkommen. Lass mich Dich von ganzem Herzen lieben“. Wenn du so gesinnt bist und dies auch erhältst, dann wird es für dich leicht sein, deinen Lebensweg zu gehen.

Wenn du aber schwanken solltest und in deinem Herzen Zweifel keimen lässt, wenn du dich durch die bewusste Missachtung der Gebote Gottes in Finsternis begibst und dadurch deine Kräfte schwinden lässt, wenn du nicht immerfort den Herrn um Hilfe anrufst, sondern dich im Stolz erhebst und auf deine eigene Kraft hoffst, dann wirst du tief fallen und dir das Leben unendlich schwer machen. Doch auch dann verzage nicht! Übe dich vielmehr noch mehr in Demut und setze alle deine Hoffnungen auf den Herrn, auf Seine Barmherzigkeit und Seine Hilfe. Dies ist die rechte Gesinnung. Doch man erlangt sie nicht, ohne Erfahrungen zu sammeln, nicht ohne zu sündigen und sich in Gedanken wieder aufzurichten.

Sie ist davon gekennzeichnet, dass man auf sehr tiefe Weise seine Schwachheit erkennt, so zu leben, wie es die Gebote erfordern und seine Unfähigkeit sieht, Gott so zu lieben, wie Er uns geliebt hat. Aus diesem Bewusstsein heraus gelangt man in den sogenannten Zustand des zerschlagenen und weinenden Herzens. Man ist sich bewusst, dass man vor Gott in unendlicher Schuld steht (zehntausend Talente). Mit einem Wort, es ist ein Herz, das zerschlagen und gedemütigt ist und das der Herr nicht noch weiter zerschlägt. Aus ihm wird jene Liebe zu Gott geboren, von der ich am Anfang gesprochen habe. Allein mit seinem Willen und nur, weil man es wünscht, kann man nicht lieben. Die Liebe erwächst nur, wenn man nach den Geboten lebt und über seine Sünden trauert, wenn man betrübt ist, dass man, anstatt Gott zu lieben und ihm zu gefallen, in einem fort seinen heiligen Willen verletzt.

Aus dieser Trauer und Zerschlagenheit des Herzens heraus wird Gottesfurcht geboren, d.h. die Furcht, Gott eventuell kränken zu können. Daraus entsteht ein Gefühl der Nähe Gottes zu uns, die der Prophet David mit folgenden Worten beschrieben hat: „Ich habe den Herrn stets vor mir gesehen“ (Ps. 15,8). Daraus erwächst die überzeugte Entschiedenheit, dass es besser ist zu sterben, als den Herrn zu kränken. Dabei entwickelt sich nicht nur die Bereitschaft, ohne aufzubegehren Leiden und Kummer zu ertragen, sondern auch noch die Dankbarkeit für diese. Denn das Herz empfindet Freude, wenn es durch die Leiden gereinigt ist, und eine gewisse Befriedigung, wenn es für Gott leiden und Ihm somit seine Liebe zeigen kann. „Was werde ich dir, Herr, geben, für all das, was du mir gibst“ (Ps. 116,12)?

Verzeih mir, dass ich mich habe hinreißen lassen. Vielleicht war auch alles, was ich geschrieben habe, noch nicht an der Zeit. Doch dein Kummer hat mich dazu beflügelt, dir dies alles zu schrieben. Vielleicht wird es dir von Nutzen sein und dir in gewisser Weise zum Troste dienen.

Mein lieber Freund, um eines bitte ich dich: Wende dich nie von Gott ab, wie tief du auch fallen mögest, wie du auch sündigen und den Herrn kränken magst (Möge der Herr dich davor bewahren!). Bitte vielmehr wie der Verlorene Sohn bei Ihm um Vergebung und bemühe dich immer wieder neu nach den Geboten des Herrn zu leben. „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Joh. 6,37). Derjenige, der zum Herrn eilt, indem er Seine Gebote erfüllt und, auch wenn er auf seinem Wege stürzt, doch immer wieder aufsteht und weitergeht, gehört zu den Kriegern Christi. Er wird von Ihm den Lorbeer erhalten, auch wenn er in diesem geistlichen Kampf mit seinen Leidenschaften, seiner gefallenen Natur und den Dämonen viele Wunden davon getragen hat. Möge der Herr dir Einsicht schenken und deinen Glauben und Willen stärken. Möge er dich von allem Bösen bewahren. Der Segen des Herrn sei mit dir. Bleib gesund.

Bewahre diesen Brief auf und lies ihn in Momenten, wenn du verzagt bist.

PS: Noch eine Sache, die ich dir mit auf den Weg geben möchte. Gedenke der Worte von Jesus Christus: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh. 15,13). Man gibt sein Leben für andere Menschen, für seine Heimat, seine Väter und Mütter im Krieg hin, wenn man aufrichtig gegen den Feind kämpft. Jetzt wird viel vom Krieg gesprochen. Wenn er kommen sollte, dann musst auch du in den Krieg ziehen. Hier ein leichter Weg, seine Seele zum Heil zu führen: Schone dich nicht! Erfülle im Glauben an den Herrn ehrlich jeden Befehl, auch wenn es klar ist, dass du in den Tod gehst. Begib dich selbst nicht in Gefahr, denn dies gleicht oft einem Selbstmord. Wenn dir aber ein Befehl gegeben ist, dann erfülle ihn aufs Strengste und blicke nicht auf Schwierigkeiten und Gefahren. Bitte den Herrn und die Heiligen um Hilfe und beflügele mit deinem mutigen Beispiel auch die anderen. Der Tod im Krieg ist ein Tod „für seine Freunde“ und führt ins Reich Gottes. Er sollte deshalb niemandem Angst machen. Fürchte nichts. Der Herr ist mit dir. In der Russischen Kirche sind viele der verherrlichten Heiligen Krieger gewesen. Du wirst davon erfahren, wenn ihr die Geschichte der Russischen Kirche besprecht.

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