Briefe an meine geistlichen Kinder. Teil 38

1. September 2022

briefe

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Wir haben deine Briefe bekommen. Ich antworte kurz auf einige Momente.

Woher hast du diesen merkwürdigen Gedanken, „dass der Mensch aus eigener Kraft das Gute nicht tun kann, und zwar nicht aus dem Grunde, weil er ein Gestürzter ist, sondern weil ihm dies seine Natur, die ihm bei der Erschaffung des Menschen gegeben worden ist, nicht ermöglicht?“

Einen solchen Gedanken kann ein Christ nur dann formulieren, wenn er nicht in einem vollen klaren Zustand ist. Was hat es denn dann für einen Sinn, dass uns die Gebote gegeben sind? Denn das Gute tun bedeutet, die Gebote des Herrn zu erfüllen. Wie kann man dann als Bedingung für das Heil die Erfüllung der Gebote nennen, wenn der Mensch sie schon von seiner Natur her nicht erfüllen kann?

Vor dem Sündenfall war der Mensch in seiner Wahl und seinem Tun frei vom Bösen. Nach dem Sündenfall wurde er zum Knecht der Sünde. Der Heilige Symeon der Neue Theologe sagt, dass der Mensch nach dem Sündenfall die Freiheit, das Gute zu tun, eingebüßt hat. Ihm ist nur die Freiheit, das Gute zu wählen, es zu bevorzugen und zu wünschen, geblieben. Um es aber auch zu tun, muss der Mensch sich im Gebet an Gott wenden, damit Dieser ihm Kräfte gebe, das Gute, welches er wünscht, auch zu tun. So beschreibt es auch der Heilige Isaak der Syrer. Was einem für das ausreichende Erfüllen der Gebote fehlt, lässt sich durch ein Herz, das zerschlagen ist, ausgleichen.

Ich wage zu sagen, dass ein zerschlagenes Herz, d.h. die Tränen des Herzens über die Übertretung der Gebote, mehr wert ist, als die Erfüllung der Gebote aus eigenem Willen. Denn Letzteres führt zu einer hohen Meinung von sich selbst und zum Stolz, wodurch das getane Gute zunichte gemacht wird. Ein zerschlagenes Herz aber ersetzt (dank der Barmherzigkeit Gottes) das Erfüllen und hält den Menschen im Zustand der Demut, ohne die alles Tun sinnlos ist und sogar zum Verderben führen kann.

Du fragst, ob der Gedanke vom Bischof Feofan, dass „die Gnade nur auf den Verstand und das Gefühl wirkt, wobei der Willen des Menschen unberührt bleibt“, so richtig ist.

Im Allgemeinen wird angenommen, dass der Herr durch die Gnade den Willen eines Menschen nicht zwingt. Das Gute aus dem Zwang zum Guten heraus ist nicht das Gute. In diesem Sinn erscheint der Gedanke vom Bischof Feofan richtig. Wenn man allerdings annimmt, dass die Gnade auf den Verstand und das Gefühl einwirkt – was auch wirklich für das Heil des Menschen, um es ihm zu erleichtern, die Wahrheit und das Heil zu finden, so geschieht - sollte man den Gedanken von Bischof Feofan dennoch einschränken. Die Seele eines Menschen besteht nicht aus einzelnen, voneinander unabhängigen Teilen: Verstand, Gefühl und Wille usw. Sie ist ein geeintes Wesen. Die Reinigung oder Erleuchtung des Verstandes und des Herzens durch die Gnade wirkt auf die gesamte Seele und folglich auch auf den Willen. Helfen nicht etwa sowohl der Verstand des Asketen, der sehr klar die Wahrheit und die Folgen der Sünde erkennt, wie auch sein Herz, das nach Gott strebt, seinem Willen, den Weg des Heils, d.h. den Weg zu Gott zu erwählen, sowie den Weg, der in die Finsternis, zum Bösen und ins Verderben führt, zu verschmähen? Das bedeutet also, dass man von einer indirekten Wirkung auch auf den Willen sprechen kann.

Erneut könnte man wiederholen, was ich bereits gesagt habe: Wenn ein Mensch das Gute sieht, es mit seinem Willen dem Bösen vorzieht und den Weg des Heils einschlagen will, dann sollte er bei Gott um Hilfe bitten, das von ihm Erwünschte auch zu vollziehen. Wenn er aber auf diesem Wege etwas nicht getan hat, dann sollte er es mit einem zerschlagenen Herzen auszugleichen versuchen. Übrigens sollten wir uns klar sein, dass wir, wenn wir hier von einem „zerschlagenen Herzen“ und von „Tränen des Herzens“ sprechen, doch kaum oder nur sehr wenig wissen, was dies eigentlich bedeutet und wie es wirkt. So ist es auch mit anderen Dingen: wir gebrauchen Worte, doch verstehen nicht vollends ihre Kraft.

Möge der Herr dir Einsicht für alles Gute geben!

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