Die hl. Martyrernonne Großfürstin Elisabeth Feodorowna teilte von ganzem Herzen die zutiefst russische Liebe zu Pilgerreisen und Wallfahrten.
Die Wallfahrt oder das Pilgern zu heiligen Stätten stellt, da sie mit allen möglichen Entbehrungen und schwierigen Umständen verbunden ist, einen nicht unwichtigen Teil christlicher Askese dar und entstand vor langer Zeit. Als Russland im christlichen Glauben erleuchtet wurde, strömten eifrige Gottesanbeter aus Kiew, Tschernigow und Nowgorod auf bis dahin unerforschten Wegen zu heiligen Stätten des Byzantinischen Reiches und Palästinas. Im 19. Jahrhundert nimmt das Pilgern in Russland einen Massencharakter an.
Eine der Pilgerreisen ins Heilige Land war entscheidend für das weitere Leben der spätere Hl. Märtyrerin Elisabeth. Im Herbst 1888 reisten Großfürst Sergij, Großfürstin Elisabeth und Großfürst Pawel ins Heilige Land, um der Einweihung einer Kirche beizuwohnen, die in der Nähe von Jerusalem auf Kosten der kaiserlichen Familie zum Gedenken an Sergij Alexandrowitschs Mutter, die verstorbene Zarin Maria Alexandrowna, errichtet worden war. Während der Reise wurden auch andere Einrichtungen der Orthodoxen Palästina-Gesellschaft, deren Vorsitzender Großfürst Sergij war, in Syrien und Palästina besucht. Dort reifte in der Großfürstin die Absicht, sich dem orthodoxen Glauben anzuschließen. Bei der Einweihung der Kirche der Heiligen Maria Magdalena, die im Garten Gethsemane am Fuße des Ölbergs errichtet wurde, sagte sie: “Wie gerne würde ich hier begraben werden!” Damals ahnte die Großfürstin noch nicht, wie genau der Herr ihren Wunsch erfüllen würde: Drei Jahre nach ihrem Martyrium kamen die sterblichen Überreste der Großfürstin Elisabeth Feodorowna und der Nonne Barbara in Jerusalem an. Dort fanden sie in der Gruft der Kirche der Heiligen Maria Magdalena in Gethsemane ihre letzte Ruhe. Nach der Verherrlichung der ehrwürdigen Märtyrerinnen im Jahr 1981 durch die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland wurden die Reliquien aus der Krypta direkt in die Kirche übertragen, wo sie seither ruhen und von Pilgern aus vielen Ländern der Welt verehrt werden.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Großfürstin fast die gesamte Zeit, die sie nicht mit ihrer karitativen Arbeit beschäftigt war, für Pilgerreisen im russischen Reich nutzte. Als sie 1884 in Russland ankam, unternahm sie bald mit ihrem Mann eine Fahrt zur Einsiedelei von Wyschenskaja, wo sie den heiligen Bischof Feofan kennenlernten, der hier als Klausner lebte.
Großfürstin Elisabeth Feodorowna pilgerte gemeinsam mit ihrem Mann, Großfürst Sergij, zu heiligen Stätten. Auch nach seinem Tod gab sie diese geistliche Askese nicht auf. Als Vorsteherin des Martha-Maria-Klosters der Barmherzigkeit unternahm die Großfürstin häufig Pilgerreisen. Sie pilgerte bei mehr als 35 Reisen zu den verschiedensten heiligen Stätten des Russischen Reiches.
Jede Pilgerreise der Großfürstin hinterließ eine bleibende und gute Erinnerung an sie. Ihre Reisen hatten einen landesweiten Charakter. Sie brachte Licht in die Welt, schenkte Freude und Liebe. Jeder Besuch der heiligen Stätten war zugleich eine Möglichkeit der Begegnung und des Austauschs mit dem Volk, Tausende von guten Taten und großen Mühen, während derer ihre Liebe diejenigen umfasste, die nach Wahrheit dürsteten, die Mittellosen aber ebenso die Reichen. Elisabeth Feodorowna sagte einmal: „Unsere Pflicht ist es, zu dienen und zu säen. Wir müssen nicht die Seelen zählen, die wir gerettet oder wie vielen Menschen wir geholfen haben. Wir sollten von dieser leidvollen Erde zum Paradies aufsteigen und uns mit den Engeln über jede gerettete Seele freuen, über jeden Becher kalten Wassers, der im Namen des Herrn gereicht wird.“
Das Leben und der Dienst der Großfürstin, ihre Taten der Barmherzigkeit und Nächstenliebe haben in der Geschichte ihres neuen Vaterlandes und der Russisch-Orthodoxen Kirche einen großen Eindruck hinterlassen. Wer Ihrer Kaiserlichen Hoheit begegnete, konnte ein von aufopfernder Liebe erfülltes Leben erkennen. Es sind viele Beispiele von Mönchen, Bewohnern, strenger Skite und Einsiedeleien bekannt, die von der Großfürstin besucht wurden und die sich über die Weite ihres Geistes und ihre unermüdlichen Taten der Frömmigkeit verwunderten.
Auf ihren Reisen und Pilgerfahrten bemühte sich die Großfürstin, den Menschen, die ihr nahe standen, Aufmerksamkeit zu schenken. Sie schickte Postkarten mit Ansichten von Kirchen oder neuen Orten und teilte so ihre Eindrücke von dem, was sie gesehen hatte, mit ihren Lieben. So schickte sie während einer Pilgerreise ins Optina-Kloster eine Grußkarte mit einer Ansicht der Kasaner Kathedrale an ihre Nichte, Großfürstin Tatjana Nikolajewna, die am 10. Juni ihren Geburtstag feierte. Auf der Rückseite der Karte sind die Zeilen zu lesen: „An deinem Geburtstag war ich im Gebet mit dir hier in diesem wunderbaren Kloster. Gott segne dich.“
An Großfürstin Olga schickte Großfürstin Elisabeth Feodorowna eine Postkarte mit Ansichten des Klosters und begleitete sie mit herzlichen Worten: „In Liebe und in meinen Gebeten war ich mit euch Ich habe die Heilige Kommunion zusammen mit einigen unserer Schwestern empfangen, die mich auf dieser Pilgerreise begleitet haben. Für Olga. Deine Dich liebende Tante Ella.“
Großfürstin Elisabeth Feodorowna traf während ihrer Reisen mit Starez Nektarij zusammen. Sie schätzte seine geistliche Unterstützung und Führung sehr.
Während ihres Aufenthalts im Optina-Kloster bereitete sich die Großfürstin eifrig auf die Heilige Kommunion vor, aß wenig und nur pflanzliche Nahrung, nahm an allen Gottesdiensten teil, beichtete, betete voller Eifer und mit ganzer Seele, verbeugte sich tief und antwortete auf die Verbeugungen der Geistlichen und Brüder während der Gottesdienste stets mit einer tiefen Verbeugung. Während der Göttlichen Liturgie sah man Tränen in den Augen der Großfürstin.
Die Großfürstin besuchte auch die Skite des Hl. Johannes des Täufers. In der Kirche der Skete wurde sie vom Vorsteher, Priestermönch Feodosij, begrüßt, der sich mit folgenden Worten an sie wandte: „Eure Kaiserliche Hoheit, die Skite hat die besondere Freude, Sie in ihren heiligen Mauern willkommen zu heißen. Möge der Herr Ihren Einzug segnen und Sie mit seiner Gnade bedecken“. Nach einem kurzen Gebetsgottesdienst mit einem vielmaligen Segensruf auf die russische Dynastie überreichte Vater Feodosij Ihrer Hoheit eine Ikone des Heiligen Johannes des Täufers in einem kostbaren Rahmen mit den Worten: „Nehmt, Eure Kaiserliche Hoheit, das Bildnis des heiligen Johannes des Täufers an, des Schutzpatrons dieser Einsiedelei. Er möge auch Euer Schutzpatron werden und Euch auf allen Euren Lebenswegen beschützen.
In dem Dorf Nikolo-Berezovka brannten mehr als hundert Häuser und Nebengebäude der Einwohner ab. „Wie kann ich mich von einem solchen Unglück fernhalten? - Die Großfürstin war besorgt. - Mach dich bereit, Warwaruschka, morgen brechen wir nach Nikolo-Berezovka auf. Ich muss dort sein, wo die Menschen leiden, wo meine Hilfe gebraucht wird. Am 8. Juli um vier Uhr nachmittags näherte sich der Dampfer „Mezen“, der majestätisch auf der menschenleeren Oberfläche der vollgelaufenen Kama schaukelte, dem Kai von Nikolo-Beresowka. Elisabeth Feodorowna ging in Begleitung von Walentina Sergejewna Gordejewa, Schwester Barbara und einigen ihrer engsten Mitarbeiter an Land und wurde sofort von zahlreichen Menschen umringt. Die Großfürstin nahm das ihr feierlich dargebotene Brot und Salz dankbar an und sagte leise: „Ich bin in Ihre gastfreundliche Siedlung gekommen, meine Damen und Herren, nicht um einen müßigen Spaziergang zu machen, sondern um den Bedürftigen in ihrer Not zu helfen und vor dem wundertätigen Bild des Heiligen Nikolaus zu beten. Bitte begeben Sie sich mit mir zunächst zur Kirche Gottes; ich habe so viel über seine Geschichte gehört, dass ich unbedingt so schnell wie möglich die Schwelle dieses wunderbaren Heiligtums überschreiten möchte.“
Isolda Kutschmajewa, Rektorin der Staatlichen Akademie für Slawische Kultur, schreibt in ihrem Artikel „Die kaiserliche Pilgerin“: „Die Pilgerreisen der Großfürstin Elisabeth Feodorowna sind unnachahmlich, einzigartig. Warum waren Pilgerreisen für sie so attraktiv? Vor allem, weil sie es ermöglichten, das monastische Gebet für einige Zeit vom Dienst in der Welt zu trennen. Das tägliche Leben, ausgefüllt mit der Sorge um die Nächsten, ließ für das Gebet in der Regel nur die Nachtstunden übrig. Diese intensive Existenz, die Untrennbarkeit von Gebet und Dienst an den Menschen, ebnete natürlich den Weg für den geistigen Aufstieg von Elisabeth Feodorowna. Und doch brauchte eine so unbarmherzig fordernde Person wie die Großherzogin eine besondere Zeit, um ihr Leben vom Gebet aus mit einem tiefen Gefühl der Umkehr zu betrachten. Und das war nur auf Pilgerreisen möglich, wenn man für kurze Momente die wichtigen weltlichen Sorgen hinter sich lassen konnte, um sich allein dem Gebet und dem Gottesdienst zu widmen.
Die Reisen der Großfürstin standen im Zusammenhang mit der Heiligsprechung von Heiligen, aber sie unternahm auch Wallfahrten und Pilgerreisen zu kaiserlichen und stawropegialen Klöstern. Mehr als einmal besuchte die ehrwürdige Märtyrerin Elisabeth das Kloster von Sarow, wo sie zu den Reliquien des Hl. Seraphim eilte. Sie reiste nach Pskow, Kiew, ins Optina- Kloster und die Sosima-Einsiedelei, besuchte das Solovetsky-Kloster und die altrussischen Städte Jaroslawl, Rostow, Mologa, Rybinsk und Uglitsch. Die Großfürstin besuchte Kostroma zweimal - zur Feier des 300. Jahrestages der Herrschaft des Hauses Romanow und zur Organisation von Hilfe für die verwundeten Frontsoldaten.
Die Großfürstin nahm an gottesdienstlichen Feiern teil, die mit der Enthüllung oder Übergabe von Reliquien der Heiligen Gottes verbunden waren. Insgeheim half und pflegte sie kranke Pilger, die während der Besuche heiliger Stätten auf die Fürbitte der Heiligen ihre Genesung von Gott erwarteten. Im Jahr 1914 besuchte Elisabeth Feodorowna das Kloster in Alapajewsk, der Stadt, in der sie vier Jahre später inhaftiert werden sollte und schließlich den Martyrertod erleiden wird.
Man kann von einer gesamtrussischen Bedeutung der Pilgerreisen von Elisabeth Feodorowna sprechen, denn die Menschen verehrten sie schon damals als eine Person mit einer beispielhaften Lebensführung. Die Tugenden der kaiserlichen Pilgerin waren für jedermann offensichtlich: Großzügigkeit bei den Almosen, grenzenlose Barmherzigkeit gegenüber Kranken und Armen, keusche bescheidene Sprechweise, geistliches Taktgefühl, ihr unermüdliches Gebet. All dies und noch viel mehr, was sich den Menschen im Austausch mit der kaiserlichen Pilgerin offenbarte, schuf in den Seelen und Köpfen der Menschen ein Bild von großer Überzeugungskraft, das dazu anregte, ihren Alltag zu veredeln. Indem sie mit Sanftmut und Liebe auf die Menschen einwirkte und sie mit ihrem hellen und freundlichen Blick tröstete, wurde Elisabeth Feodorowna auf ihren Pilgerreisen zu einer Lehrerin der christlichen Tugenden.