Predigt zum Fest der Taufe unseres Herrn und Erlösers Jesu Christi

19. Januar 2023

Fest der Taufe unseres Herrn und Erlösers Jesu Christi

vom Hl. Johannes Chrysostomos (344 - 407)

Ihr alle seid am heutigen Tage voll Freude, ich allein bin traurig. Denn wenn ich auf diese Schar von Gläubigen hinschaue, die sich groß und weit wie das Meer vor meinen Blicken ausdehnt, auf diesen unermesslich reichen Schatz der heiligen Kirche, dann muss ich zugleich daran denken, dass diese Schar [für lange Zeit] hinweggeeilt und verschwunden sein wird, sobald das Fest vorüber ist; und dieser Gedanke ist es, der mein Herz mit Wehmut und Trauer erfüllt. Warum kann sich doch die Kirche, die so viele Kinder geboren hat, nur an Festtagen, und warum nicht bei jeder gottesdienstlichen Versammlung dieser Kinder freuen? Welch eine heilige Freude, welch eine Wonne, welch eine Ehre für Gott, den Herrn, und welch ein Gewinn für die Seelen, wenn wir bei jedem Gottesdienste die Räume der Kirche so gefüllt sähen wie heute! Aber ach, während die Seefahrer alle ihre Kräfte aufbieten, um ihre Fahrt über das weite Meer möglichst schnell zu Ende zu führen, sind wir darauf bedacht, auf hoher See allenthalben hin und her zu irren; wir segeln fortwährend auf den stürmischen Wogen weltlicher Geschäfte, treiben uns auf den öffentlichen Plätzen und in den Gerichtsstuben umher; und hier erscheinen wir kaum einmal oder zweimal im ganzen Jahre! Wisst ihr denn nicht, dass nach Gottes Plan und Absicht in den Städten die Kirchen Dasselbe sein sollen, was im Meere die Häfen? Dass wir aus den Stürmen und Wirren dieses Lebens uns hierher zurückziehen sollen, um hier der größten Ruhe und Sicherheit zu genießen? Hier hat man nicht zu fürchten die brausende Flut, nicht räuberische Angriffe oder heimtückische Nachstellungen, nicht die Gewalt des Orkans, nicht die Bosheit gefährlicher Raubtiere. Denn ein Hafen ist die Kirche, in welchem man gegen alle diese Gefahren gesichert ist, ein Hafen im geistigen Sinne, ein Hafen für die Seelen. Das könnt ihr bezeugen; denn wenn irgend Einer von euch jetzt sein Inneres untersucht, so wird er darin eine große Stille finden. Er wird jetzt nicht beunruhigt vom Zorn, nicht erhitzt von der Begehrlichkeit, nicht gequält von Missgunst, nicht aufgebläht von Hochmut, nicht angestachelt von Sucht nach eitler Ehre. Alle diese wilden Tiere sind jetzt gezähmt; denn die Worte der heiligen Schrift, die man hier hört und in das Herz aufnimmt, sind wie ein göttlicher Zaubergesang, der diese unsinnigen Leidenschaften einschläfert. Wenn man es nun gleichwohl unterlässt, die Kirche, die gemeinsame Mutter aller Gläubigen, andauernd und regelmäßig zu besuchen und zu seinem Aufenthalte zu erwählen, trotz der Aussicht, hier solche Weisheit zu lernen und solche Seelenruhe zu verkosten, ist das nicht ein überaus großes Unglück? Wie könntest du die Zeit denn besser verwenden? Wo einer nützlicheren Zusammenkunft beiwohnen? Und was hindert dich denn, hier zu verweilen? Jedenfalls wirst du sagen, deine Armut erlaube dir nicht, an dieser herrlichen Versammlung Teil zu nehmen. Allein das ist keine rechtmäßige Entschuldigung. Sieben Tage hat die Woche, und diese sieben Tage hat Gott mit uns geteilt. Er hat aber nicht etwa für sich den größeren Teil behalten und uns den kleineren gegeben, ja er hat nicht einmal zu gleichen Teilen mit uns geteilt, er hat nicht drei für sich genommen und drei abgegeben; nein, er hat dir sechs zugewiesen und sich einen vorbehalten. Du aber willst dich nicht dazu verstehen, an diesem einen Tag dich ganz von weltlichen Geschäften abzukehren, und du scheust dich nicht, diesen Tag in derselben Weise zu misshandeln, wie ein Kirchenräuber das Heiligtum, an dem er sich vergreift! Denn du raubst diesen geheiligten und der Anhörung des göttlichen Wortes geweihten Tag, um ihn zu weltlichen Sorgen zu missbrauchen. Doch was rede ich von dem ganzen Tage? Bringe dem Herrn doch wenigstens einen geringen Bruchteil dieses Tages zum Opfer, ähnlich dem kleinen Almosen, das die Witwe gespendet hat! Wie jene Witwe zwei Heller geopfert und sich dadurch Gottes Wohlgefallen in hohem Grade erworben hat, so leihe auch du Gott, dem Herrn, zwei Stunden, dann wirst du einen Gewinn mit nach Hause nehmen, der tausend Tage aufwiegt. Willst du, das nicht, dann sieh wohl zu, dass du nicht die Früchte jahrelanger Arbeiten verlierst, weil du dich weigerst, dich einmal einen geringen Teil des Tages hindurch vom irdischen Gewinne abzuwenden. Denn wenn man Gott, den Herrn verachtet, dann weiß er uns auch die schon gesammelten Güter wieder zu entziehen. Das hat er einst den Juden angedroht, weil sie die Sorge um seinen Tempel vernachlässigten: „Ihr habt sie (die Güter) in euren Häusern zusammengetragen, ich blase sie hinaus“, spricht der Herr. Wenn du dich bloß einmal oder zweimal im Jahre bei uns einfindest, sag’ an, was können wir dich dann lehren von jenen Wahrheiten, die man doch notwendig wissen muss? Über die Seele, den Leib, die Unsterblichkeit, das Himmelreich, die Strafe, die Hölle, die Langmut Gottes, die Verzeihung, die Buße, die Taufe, das Nachlassen der Sünden, die himmlische und die irdische Schöpfung, die Natur des Menschen, die Engel, die Bosheit der verworfenen Geister, die Ränke des Teufels, das christliche Leben, die Gebote, den rechten Glauben, die Irrtümer der Ketzereien? Das und noch manches Andere muss der Christ wissen, von alledem muss er Rechenschaft geben, wenn er gefragt wird. Ihr aber, die ihr bloß einmal im Jahr, und zwar nur so ganz flüchtigen Sinnes, euch hier versammelt, nicht aus frommer Gesinnung, sondern weil eben das Fest es so mit sich bringt, ihr könnt jene Wahrheiten auch nicht zum geringsten Teile kennenlernen. Denn wie sehr könnte man schon zufrieden sein, wenn auch nur diejenigen Christen, die ganz regelmäßig an unsern Versammlungen Teil nehmen, sich alle jene Lehren gehörig zu eigen machten! …

Wir wollen jetzt zu einigen Erwägungen über das heutige Fest übergehen. Denn viele Christen begehen die Feste und kennen die Namen derselben, ohne über ihre Veranlassung und Entstehung unterrichtet zu sein. Dass das Fest, welches wir heute feiern, Fest der Erscheinung genannt wird, das wissen alle; welche Erscheinung aber und ob eine oder zwei Erscheinungen gemeint sind, das wissen sie nicht. Jahr für Jahr feiern sie das Fest und kennen gleichwohl den Gegenstand und die Veranlassung der Feier nicht: Das ist sehr beschämend und lächerlich zugleich. Zuerst muss ich euch nun sagen, daß es nicht bloß eine, sondern zwei Erscheinungen des Herrn gibt. Die eine ist diejenige, welche schon geschehen ist; die andere ist die zukünftige, die sich am Ende der Welt in großer Herrlichkeit vollziehen wird. Von beiden Erscheinungen habt ihr heute den heiligen Paulus in seinem Briefe an Titus reden hören. Von der schon geschehenen Erscheinung sagt er: „Erschienen ist die Gnade Gottes, die Heil wirkende, allen Menschen, uns unterweisend, dass wir absagend der Gottlosigkeit und den weltlichen Begierden, besonnen und gerecht und fromm leben in dieser Gegenwart“, und dann von der künftigen: „Erwartend die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilands Jesus Christus.“ Und der Prophet sagt von derselben, wie folgt: „Die Sonne wird in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und glänzende.“ Warum wird jetzt aber nicht der Tag der Geburt des Herrn, sondern der Tag seiner Taufe als seine Erscheinung gefeiert? Der heutige Tag ist nämlich derjenige, an dem er getauft worden ist und die Natur des Wassers geheiligt hat. Darum, weil heute das Wasser geheiligt worden ist, pflegt man allgemein in der Mitternachtsstunde des heutigen Festes Wasser zu schöpfen, um es zu Hause sorgfältig aufzuheben und dann ein ganzes Jahr zu verwahren; und es geschieht durch ein offenbares Wunder, dass dieses heut geschöpfte Wasser nicht verdirbt, sondern ein ganzes Jahr, ja oft zwei und drei Jahre lang frisch und unversehrt bleibt, sodass es nach Ablauf dieser langen Zeit mit dem soeben an der Quelle geschöpften Wasser vollständig den Vergleich aushält. Warum also wird dieser Tag Fest der Erscheinung genannt? Weil der Herr nicht bei seiner Geburt, sondern erst bei seiner Taufe allgemein bekannt wurde; denn bis zu diesem Tage war er der großen Masse des Volkes unbekannt. Dass ihn nämlich die Menge nicht kannte und nicht wusste, wer er war, das sagte Johannes der Täufer. Höre seine Worte: „In eurer Mitte steht er, den ihr nicht kennt.“ Was Wunder übrigens, wenn die Andern ihn nicht kannten, da auch der Täufer selbst ihn bis zu diesem Tage nicht kannte? Denn so sagte er: „Und ich kannte ihn nicht, aber Der, welcher mich geschickt hat zu taufen in Wasser, Er sprach zu mir: Auf welchen du den Geist niedersteigen siehst und weilen auf ihm, Dieser ist es, welcher tauft im Heiligen Geiste.“

Aus dem bisher Vorgetragenen ist nun ersichtlich, dass es eine zweifache Erscheinung des Herrn gibt. Es ist aber noch auseinander zu setzen, weshalb Christus zur Taufe gekommen und was das für eine Taufe ist, zu der er gekommen ist; denn auch Das muss man wissen. Beides muss ich euch erklären, und zwar zuerst, was für eine Taufe er empfangen hat; denn daraus werden wir die Ursache seiner Taufe ersehen.

Eine Taufe gab es bei den Juden: Diese reinigte von leiblichen [levitischen] Befleckungen, nicht von dem Sündenschmutz der Seele. Denn wenn jemand einen Ehebruch begangen oder einen Diebstahl verübt oder eine andere Sünde solcher Art getan hatte, konnte ihn diese Taufe nicht von der Schuld entlasten. Wenn man aber Totengebeine berührt, wenn man verbotene Speisen genossen hatte, wenn man von einem verwesenden Leichnam herkam, wenn man mit Aussätzigen zusammen gewesen war, dann musste man sich waschen, war darauf bis zum Abend unrein, und dann war man rein. Denn so heißt es: „Er soll seinen Leib in reinem Wasser waschen und unrein sein bis zum Abend, und dann wird er gereinigt sein.“ Das war nämlich nicht eigentlich Sünde und Unreinheit; aber Gott bildete die Juden, die noch sehr unvollkommen waren, durch dergleichen Vorschriften und Übungen zu größerer Frömmigkeit heran und bereitete sie schon früh zur Beobachtung wichtigerer Gebote vor.

Die Reinigungen bei den Juden befreiten also nicht von Sünden, sondern nur von leiblicher Beflecktheit. Unsere Taufe dagegen ist nicht von dieser Art, sondern ist weit erhabener und enthält einen großen Reichtum an Gnaden. Denn sie befreit von Sünden, wäscht die Seele rein und stattet sie aus mit den Gaben des Heiligen Geistes. Die Taufe des Johannes war einerseits viel höheren Ranges als die Waschungen bei den Juden, aber andererseits geringer als unsere Taufe. Sie war zwischen beiden Arten von Reinigungen gleichsam eine Brücke, die von der einen zur andern hinüberführte. Denn Johannes hielt seine Zuhörer keineswegs zur Beobachtung jener körperlichen Reinigungen an; davon sah er vielmehr ganz ab. Dagegen ermahnte er sie eindringlich, sich von der Sünde abzuwenden und zur Tugend zu bekehren, auf gute Werke und nicht auf die verschiedenen Waschungen und Reinigungen die Hoffnung des Heiles zu gründen. Denn er sagte nicht: Wasche deine Kleider, wasche deinen Leib, und du wirst rein sein; wie sagte er vielmehr? „Bringt würdige Früchte der Buße!“1 Demgemäß war also die Taufe des Johannes höheren Ranges als die Waschungen bei den Juden. Unserer Taufe aber steht sie nach. Denn die Taufe des Johannes konnte weder den Heiligen Geist verleihen noch Verzeihung durch die Gnade gewähren. Er mahnte zur Buße, aber er hatte nicht die Gewalt, Sünden nachzulassen. Deshalb sagte er auch: „Ich taufe euch in Wasser, Jener aber wird euch im Heiligen Geiste und im Feuer taufen.“2 Daraus geht hervor, dass er selbst nicht mit dem Heiligen Geiste taufte. Was bedeuten aber die Worte: im Heiligen Geiste und im Feuer? Erinnere dich hier an jenen Tag, wo den Aposteln zerteilte Zungen wie Feuer erschienen und es auf einem jeden von ihnen sich niederließ.3 Dass die Taufe des Johannes unvollkommen war, indem sie weder die Gaben des Heiligen Geistes noch S. 64 Verzeihung der Sünden mitteilte, geht auch aus Folgendem hervor. Paulus traf einst einige Jünger an und fragte sie: Habt ihr, nachdem ihr gläubig geworden, den Heiligen Geist empfangen?4 Sie aber sprachen: Wir haben nicht einmal gehört, ob ein heiliger Geist sei. Er aber sagte zu ihnen: Worauf seid ihr denn getauft worden? Und sie erwiderten: Auf die Taufe des Johannes. Paulus aber sprach: Johannes erteilte eine Taufe zur Buße (zur Buße! Nicht zur Verzeihung! Und weswegen taufte er?), indem er dem Volke sagte, an denjenigen, der nach ihm komme, sollten sie glauben, das ist an den Herrn Jesus. Und als sie das gehört hatten, wurden sie auf den Namen des Herrn Jesus getauft. Und nachdem Paulus ihnen die Hände aufgelegt hatte, kam der Heilige Geist auf sie herab. Siehst du, wie unvollkommen die Taufe des Johannes war? Denn wäre sie es nicht, dann hätte Paulus diese Jünger nicht wieder getauft, hätte ihnen nicht die Hände aufgelegt. Da er nun aber Beides getan hat, so hat er damit gezeigt, dass die apostolische Taufe eine höhere Würde besitzt, und dass die Taufe des Johannes tief unter ihr steht.

Daraus haben wir indessen gelernt, wie die einzelnen Arten der Taufe sich unterscheiden. Jetzt muss ich noch erklären, warum Christus sich taufen lässt, und welche Taufe er empfängt. Das war weder eine Taufe nach Art der jüdischen Reinigungen, die schon vordem in Gebrauch waren, noch unsere Taufe, die erst später angeordnet wurde. Denn erstens hatte er keine Sündenvergebung notwendig, (wie wäre es auch möglich, dass er der Verzeihung bedurfte, da er ja keine Sünde hatte? Eine Sünde heißt es, „hat er nicht getan, und kein Trug ist in seinem Munde gefunden worden.“ Und wiederum: „Wer von euch kann mich einer Sünde beschuldigen?“) und zweitens war dieser Leib keineswegs des Heiligen Geistes bar; denn wie wäre das möglich, da er gleich von vornherein aus dem Heiligen Geiste gebildet ward? Wenn also dieser Leib weder des Heiligen Geistes entbehrte noch der Sünde unterworfen war, weshalb ließ er sich denn taufen? Doch vorher müssen wir noch erfahren, welche Taufe er empfangen hat; dann wird uns der Grund seiner Taufe besser einleuchten. Welche Taufe hat er also empfangen? Nicht eine jüdische, nicht die unsrige, sondern die Taufe des Johannes. Und warum hat er diese empfangen? Damit du eben aus dem Wesen und Charakter dieser Taufe ersiehst, dass weder Sündenschuld noch Mangel an Gnaden des Heiligen Geistes der Grund seiner Taufe war. Denn die Taufe des Johannes konnte diese nicht verleihen, konnte jene nicht tilgen, wie ich schon gezeigt habe. Daraus geht nun klar hervor, dass der Herr nicht etwa deshalb zum Jordan kam, um Nachlass von Sünden zu erhalten, und auch nicht, um mit dem Heiligen Geiste ausgestattet zu werden. Und damit niemand von den Anwesenden vermeinen sollte, er komme als Büßer, wie die Andern, kam Johannes diesem Irrtum schon durch seine Anrede zuvor. Während er zu den Andern sagte: „Bringt eine würdige Frucht der Buße!“ Höre, wie er zu diesem spricht: „Ich habe nötig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir?“ Das sagte er, um zu zeigen, dass Jesus nicht aufgrund derselben Notwendigkeit wie die Masse des Volkes zu ihm gekommen war, dass er nicht im Entferntesten zu demselben Zwecke die Taufe empfange, und dass er vielmehr weit größer und unvergleichlich reiner sei als der Täufer selbst. Weshalb ließ sich denn jetzt der Herr taufen, wenn seine Taufe weder eine Bußtaufe war noch die Verzeihung von Sünden noch die Gnadenwirkungen des Heiligen Geistes zum Zwecke hatte? Aus zwei andern Ursachen. Die eine erwähnte der Jünger, die andere bezeichnete er selbst in den Worten, die er an Johannes richtete. Was gibt also Johannes als S. 66 Grund für diese Taufe an? Es sollte dadurch den Leuten bekannt gemacht werden, dass Johannes,8 wie auch Paulus sich ausdrückte, eine Bußtaufe erteilte, damit sie an denjenigen, der nach ihm käme, glauben möchten. Das war es, was die Taufe bewirken sollte. Wie hätte auch die Aufforderung zum Glauben an ihn besser und zweckmäßiger geschehen können? Sollte Johannes etwa mit dem Heiland an allen Häusern vorüberziehen und dann an jeder Türe sagen und rufen: Dieser ist der Sohn Gottes? Das hätte Veranlassung gegeben, sein Zeugnis zu bemängeln, und wäre überdies äußerst umständlich gewesen. Oder sollte er mit ihm in die Synagoge gehen und da auf ihn hinweisen? Auch das hätte wiederum gegen sein Zeugnis Verdacht erregt. Hier aber waren die Umstände der Art, dass sie das Zeugnis des Johannes über jeden Verdacht erheben mussten: während das ganze Volk aus allen Städten am Jordan versammelt war und sich an den Ufern des Flusses aufhielt, kam auch Jesus, um getauft zu werden, und da erhielt er zugleich das Zeugnis aus dem Himmel, durch die Stimme des Vaters und durch die Erscheinung des Heiligen Geistes in Gestalt einer Taube. Daher sagte auch JHeiligenohannes: „Und ich kannte ihn nicht“, um nämlich sein Zeugnis glaubhaft zu machen. Weil sie nämlich dem Fleisch nach miteinander verwandt waren (denn von der Mutter des Johannes sagte der Engel zu Maria: „Siehe, Elisabeth, deine Verwandte, auch sie hat einen Sohn empfangen“, wenn aber die Mütter, so waren offenbar auch die Söhne miteinander verwandt), musste auch der Schein vermieden werden, als gebe Johannes sein Zeugnis zugunsten Christi wegen ihrer Verwandtschaft. Deshalb fügte es das gnadenvolle Walten des Heiligen Geistes, dass Johannes seine ganze Jugendzeit in der Wüste verbrachte, damit es nicht den Anschein hätte, als gründe sich sein Zeugnis etwa auf Freundschaft oder auf irgendeine Verabredung, damit er viel mehr als ein Zeuge auftreten könnte, den Gott selbst belehrt hatte. Deshalb sagte er: „Und ich kannte ihn nicht — wodurch hast du ihn denn kennengelernt? — der mich gesandt hat, in Wasser zu taufen, der hat mir gesagt: — was hat er dir gesagt? — auf welchen du den Geist herabsteigen sehen wirst wie eine Taube und bleiben auf ihm, der ist es, der im Heiligen Geiste tauft.“11 Siehst du wohl, dass der Heilige Geist — nicht als wäre er überhaupt erst jetzt auf den Herrn herabgekommen — zu dem Zwecke erschienen ist, um durch sein Schweben über ihm gleichsam mit dem Finger auf Denjenigen, der durch die Predigt des Johannes angekündigt ward, hinzuweisen und ihn dadurch für alle kenntlich zu machen?

Das war es also, weshalb der Herr zur Taufe kam. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, und den bezeichnete er selbst. Was für ein Grund ist das? Als Johannes sagte: „Ich habe nötig, von dir getauft zu werden, und du kommst zu mir?“ gab der Herr zur Antwort: „Lass es jetzt geschehen; denn also geziemt es uns, jegliche Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Siehe da, wie fromm gesinnt der Diener, wie demütig der Herr ist! Was bedeutet das aber, jegliche Gerechtigkeit erfüllen? Die Gerechtigkeit besteht in der Erfüllung aller Gebote. In diesem Sinne heißt es: „Beide waren gerecht, indem sie wandelten nach den Geboten des Herrn, untadelhaft.“13 Weil nun alle Menschen verpflichtet waren, diese Gerechtigkeit zu erfüllen, und doch Keiner sie vollkommen erfüllte, deshalb ist Christus gekommen und hat diese Gerechtigkeit erfüllt.

Wie kann aber das Getauft werden als Gerechtigkeit gelten? Die Gerechtigkeit bestand in dem Gehorsam gegen den Propheten. So wie der Herr sich beschneiden ließ, wie er Opfer darbrachte, den Sabbat hielt, die jüdischen Festgebräuche beobachtete, so fügte er auch zu alledem hinzu, was noch fehlte: Er gehorchte dem Propheten, der die Taufe erteilte. Es war nämlich der Wille Gottes, dass sich damals alle sollten taufen lassen. Höre nur, wie Johannes sagte: „Der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen“ und wie Christus sagte: „Die Zöllner und das Volk haben Gott gerechtfertigt, indem sie getauft wurden mit der Taufe des Johannes; die Pharisäer und Schriftgelehrten aber haben den Willen Gottes verachtet, indem sie sich nicht von ihm taufen ließen.“ Wenn also in dem Gehorsam gegen Gott die Gerechtigkeit besteht, und wenn ferner Gott den Johannes gesandt hatte, um das Volk zu taufen, dann hat Christus, indem er sich taufen ließ, ein Gebot erfüllt, wie er eben auch alle andern Vorschriften des Gesetzes erfüllte.

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