Wahrscheinlich hast du schon öfters von deinen Eltern Erzählungen über deine Großeltern und Urgroßeltern gehört. Vielleicht gibt es aber auch noch Erinnerungen an einen schon lange verstorbenen Vorfahren. In jeder guten Familie gibt es eine Familienüberlieferung, die von Generation zu Generation Wichtiges aus dem Leben der Vorfahren weitergibt und dank derer, die Erinnerung an sie wach hält, auch wenn die Nachfahren sie längst nicht mehr kennenlernen und mit eigenen Augen sehen konnten.
Die Kirche ist auch in einem gewissen Sinne eine Familie, denn sie vereint jene, die durch Christus die Gottessohnschaft angenommen haben und Söhne bzw. Töchter Gottes wurden. Deshalb sprechen sich die Christen untereinander mit “Bruder” und “Schwester” an, denn in Christus sind wir alle geistliche Brüder und Schwestern.
In der Kirche gibt es auch die von Generation zu Generation überlieferte Tradition, die von den Aposteln ausgeht. Sie waren in unmittelbarem Kontakt mit dem Herrn und Erlöser Jesus Christus und von Ihm erfuhren sie die Wahrheit. Diese gaben sie dann ihren Nachfolgern weiter. Einige Apostel schrieben ihre Erinnerungen nieder und daraus entstand später das Neue Testament, der neue Teil der Heiligen Schrift. Aber vieles wurde auch nur mündlich überliefert und niemals niedergeschrieben. Oder sie bezeugten es durch ihr Leben. All dies wird in der kirchlichen Tradition seit über zweitausend Jahren bewahrt.
Die Heilige Tradition beinhaltet nicht nur die Weitergabe der Worte und Gedanken der Apostel, sondern auch den heiligen, Gott gefälligen Lebensentwurf. Deshalb sehen wir, wenn wir die Lebensbeschreibungen der Heiligen lesen, die gleichen Anstrengungen und die gleiche Liebe zu Gott und den Nächsten, wie wir sie im Leben der heiligen Apostel entdecken.
Im Fall der Familientradition können die Menschen mit der Zeit etwas vergessen oder einen Teil der Wahrheit verlieren. Doch die Heilige Tradition verliert niemals auch nur den kleinsten Teil der Wahrheit, die sie im Anfang empfing, denn in der orthodoxen Kirche existiert stets Der, Der weiß, wie alles war und tatsächlich ist: der Heilige Geist.
In Seiner Abschiedsrede sagte der Herr zu Seinen Aposteln: “Ich werde den Vater bitten, und Er wird euch einen anderen Tröster senden, der bei euch bleibt bis ans Ende, den Geist der Wahrheit … Der Tröster, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen sendet, wird euch alles lehren und an alles erinnern, was ich zu euch gesagt habe.” (Joh 14, 16 - 17, 26)
Und der Heilige Geist kam auf die Apostel herab und blieb seit dem, die ganzen zweitausend Jahre, in der orthodoxen Kirche anwesend. Die Propheten des Alten Testaments und später die Apostel konnten Worte der Wahrheit sprechen, denn sie standen in Kontakt mit Gott. Der Heilige Geist belehrte sie. Doch dies endete nicht mit den Aposteln, denn auch die Heiligen Vätern hatten Kontakt mit Gott und auch sie wurden von ebendiesem Heiligen Geist belehrt, wie es auch bei den Aposteln war.
Die Heilige Tradition ist das ewige Gedächtnis der Kirche. Der Heilige Geist, der stets durch die Heiligen Väter und Lehrer der Kirche wirkt, bewahrt sie vor jeglichem Irrtum. Deshalb kann der Mensch, der in der Orthodoxen Kirche lebt, die Wahrheit des christlichen Glaubens erlernen und heilig werden. Wenn jemand die Wahrheit bei einer Glaubensfrage wissen will, dann kann er sich den Werken der Heiligen Väter zuwenden und aus ihnen erfährt er alles. Wer den Heiligen mehr vertraut als sich selbst, wird niemals vom Weg abkommen.