Jesus und Zachäus (Mosaik aus dem XI. Jahrhundert)
Lange vor Beginn der Fastenzeit selbst kündigt es uns die Kirche an und lädt uns ein, in die Vorbereitungszeit einzutreten. Auf jedes der wichtigen Ereignisse des Kirchenjahreskreises, auf die Hauptfeste, auf die Große Fastenzeit, bereitet uns die Kirche vor - mit Vorfeiern oder Vorbereitungssonntagen auf die Fastenzeit; dies ist ein charakteristisches Merkmal der orthodoxen liturgischen Tradition. Warum? Denn die Kirche besitzt ein tiefes psychologisches Gefühl für die menschliche Natur. Die Kirche kennt den Mangel an Aufmerksamkeit und die furchtbare „Verweltlichung“ unseres Lebens und weiß um unsere Unfähigkeit, uns schnell zu verändern, von einem geistlichen Seelenzustand zum anderen zu gelangen. Daher weist die Kirche lange vor Beginn der eigentlichen Askese der Fastenzeit auf seine Wichtigkeit hin und lädt uns ein, über seine Bedeutung nachzudenken. Bevor die wirkliche Askese der Fastenzeit beginnt, wird uns ihr Stellenwert dargelegt. Diese Vorbereitung dauert die fünf Sonntage vor der Fastenzeit an, wobei jede der Lesungen des Sonntagsevangeliums einem der Hauptaspekte der Reue gewidmet ist.
Die erste Verkündigung des Fastens hören wir im Sonntagsevangelium die Begegnung des Zöllners Zachäus mit Jesus (Lukas 19, 1-10). Dies ist die Geschichte eines Mannes, der zu klein war, um Jesus sehen zu können, aber sein Verlangen, ihn zu sehen, war so stark, dass er dafür auf einen Baum kletterte. Jesus erwiderte seinen Wunsch und ging in sein Haus. Dies ist das erste Thema, es handelt vom Verlangen. Ein Mensch folgt seinem Verlangen. Man kann sogar sagen, dass der Mensch selbst Begehren, Verlangen ist, und diese grundlegende psychologische Wahrheit über die menschliche Natur wird im Evangelium anerkannt. „Wo dein Schatz ist,“ sagt Christus, „dort wird dein Herz sein“ (Lk 12,34). Ein starkes Verlangen überwindet die natürliche Begrenztheit einer Person. Wenn er etwas leidenschaftlich begehrt, tut er Dinge, zu denen er "normalerweise" nicht in der Lage ist. Als "klein von Wuchs" erhebt sich Zachäus. Daher stellt sich lediglich die Frage, ob der Wunsch eines Menschen richtig ist, ob er auf ein gutes Ziel gerichtet ist oder,ob, wie der atheistische Existenzialist Jean-Paul Sartre es ausdrückt, der Mensch eine “unnütze” Leidenschaft ist.
Der Wunsch des Zachäus ist richtig, ist gut; er will Christus sehen, ihm näher kommen. Bei Zachäus sehen wir das erste Sinnbild der Buße, denn Buße beginnt damit, dass der Mensch die tiefgründige Natur jeglichen Verlangens wieder erkennt: den Durst, das Verlangen nach Gott, seine Gerechtigkeit, das Verlangen nach dem wahren Leben. Zachäus ist "klein", unscheinbar, sündig und begrenzt; und jetzt transzendiert und besiegt sein Verlangen all dies. Er zieht “mit Gewalt” die Aufmerksamkeit Christi auf sich, bringt ihn in sein Haus.
Dies ist der erste Appell der Kirche an uns: Wir müssen uns diese Gegenwart, die in der Tiefe unserer Seele gründet, wünschen. Wir müssen den Durst nach dem Absoluten, der in uns herrscht, anerkennen, gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Wenn wir uns und unser Verlangen von Ihm abwenden, werden wir von einer „vergeblichen Leidenschaft" in Besitz genommen. Würden wir uns jedoch tief und stark genug nach Ihm sehnen, dann wird Christus uns auch antworten.
Erzpriester Alexander Schmemann, Die Große Fastenzeit
(Übersetzung aus dem Russischen)
Quelle: Православная энциклопедия «Азбука веры»