Jede Betrachtung aber, die das Kreuz einschließt, an dem das Geheimnis des Leidens vollbracht wird, kann nicht so leicht sprachlich dargelegt werden. Denn hat es nicht unzählige Todesarten gegeben, durch welche es möglich gewesen wäre, die Heilsordnung des für uns erlittenen Todes zu vollbringen? Aber unter allen wurde diese von Dem festgesetzt, der nach Belieben selbst Sein Leiden festsetzt. Denn er sagt: „Der Menschensohn muss,“ er sagte nicht: „Der Menschensohn wird das und das leiden,“ wie einer der die Zukunft vorhersagt, es einfach sagen würde, sondern er spricht in seinen Worten aus, was in gewisser geheimnisvoller Weise notwendig geschehen muss, wenn er sagt, dass der Menschensohn Vieles leiden und verworfen und gekreuzigt werden, und am dritten Tage wieder auferstehen muss. Denn betrachte nur den Sinn des Wortes "muss", aus welchem folgt, dass das angekündigte Leiden durchaus nicht anders als durch das Kreuz stattfinden dürfe. Wie lässt sich dies nun erklären? Nur dem großen Paulus, der durch die geheimen Reden belehrt wurde, die er im Heiligtum des Paradieses hörte, kommt es zu, auch dieses Geheimnis aufzuklären, wie er im Briefe an die Epheser teilweise das Verborgene dunkel andeutet, indem er sagt: “Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt..”
Denn nicht umsonst hat das Auge des Apostels die Gestalt des Kreuzes angeregt, sondern er hat dadurch deutlich gezeigt, dass jeder, der die Schuppen der Unwissenheit von den Augen entfernt hat, ungetrübt die bloße Wahrheit sieht. Denn er weiß, dass diese Figur in vier Richtungen von dem Vereinigungspunkt in der Mitte sich verteilt und dadurch die alles durchdringende Kraft und Fürsorge dessen anzeigt, der an demselben erschienen ist, und deshalb benennt er jede Richtung mit einem besonderen Namen, indem er die Ausdehnung von der Mitte abwärts Tiefe, die Ausdehnung nach oben Höhe, Breite und Länge, aber die Ausdehnung vom Mittelpunkt nach rechts und links nennt, so daß die auf der einen Seite der Mitte Breite, die auf der anderen Länge genannt wird, wodurch er deutlich auszusprechen scheint, daß es kein Ding gibt, das nicht von der göttlichen Natur durchdrungen und beherrscht wird, das Himmlische, Unterirdische, und was sich an die äussersten Grenzen der Dinge nach allen Seiten hin in die Quere ausdehnt. Denn er bezeichnet durch die Höhe das, was höher liegt, durch die Tiefe das Unterirdische, durch die Länge und Breite aber die dazwischen liegenden Ausdehnungen, die von der alles beherrschenden Nacht umschlossen werden.
Es mag dir das, was in deiner Seele vorgeht, bei der Betrachtung Gottes zum Beweis für das Gesagte dienen. Denn schaue zum Himmel und wende deine Gedanken nach den unteren Tiefen, kehre deinen Sinn seitwärts und nach dem äussersten Punkte der ganzen Schöpfung, und bedenke, welche Kraft dies zusammenhält und gleichsam wie ein Band alles zusammenbindet, und du wirst sehen, daß die Betrachtung der göttlichen Macht wie von selbst die Figur des Kreuzes in unseren Geist einprägt, die sich von der Höhe in die Tiefe erstreckt und nach der Quere sich bis an die äußersten Spitzen ausdehnt. Diese Figur hat auch der große David, indem er von sich selbst spricht, verherrlicht: „Wohin soll ich gehen vor Deinem Geiste und wohin fliehen vor Deinem Angesicht? Steige ich in den Himmel hinauf, ― das ist die Höhe, ― steige ich unter die Erde hinab, ― das ist die Tiefe, ― würde ich mich mit meinen Flügeln am Morgen erheben, das heißt, beim Aufgang der Sonne, ― das ist die Breite, ― würde ich an den äussersten Grenzen des Meeres meine Wohnung aufschlagen, so nennt er nämlich den Untergang, ― das ist die Länge. Siehst du, wie er in diesen Worten die Figur des Kreuzes beschreibt? Du bist Der, will er sagen, der Alles durchdringt, ein Band der Dinge, und umfasst in Dir alle Grenzen. Oben bist Du, unten bist Du da, an dieser Grenze ist Deine Hand, an jener leitet uns Deine Rechte. Deshalb sagt auch der große Apostel, dass, wenn alles im Glauben und in der Erkenntnis vollbracht ist, Der, Welcher über jeden Namen erhaben ist, im Namen Jesu Christi von den Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen angebetet werde.
Wiederum teilt er auch hier die Anbetung des Kreuzes nach der Gestalt des Kreuzes. Denn der überirdische Anteil erweist im oberen Teil des Kreuzes dem Herrn die Anbetung, der irdische in der Mitte, der unterirdische hält sich an die Tiefe. Das ist auch nach meiner Ansicht das Jota, das neben dem Strichlein erscheint, das dauerhafter als der Himmel, fester als die Erde und beständiger als der ganze Weltbau ist. Himmel und Erde werden vergehen, und die Gestalt der ganzen Welt verschwindet, ein Jota oder ein Strichlein verschwindet nicht aus dem Gesetz. Eine senkrechte Linie, von oben nach unten gezogen, heißt Jota, die seitwärts gezogene aber heißt Strichlein, wie man dies auch von den Schiffern erfahren kann. Denn das Holz, das sich seitwärts über den Mastbaum zieht, an welchen man das Segeltuch befestigt, nennen sie Strichlein (κεράια) [keraia] gemäß seiner Gestalt. Deshalb scheint mir das göttliche Wort des Evangeliums anzudeuten, daß das, worin das Ganze ruht, es ist, was länger dauert, als das, was von ihm umschlossen wird und seine Macht, die alle Dinge erhält, gibt sich in der Gestalt des Kreuzes wie durch ein Bild und eine Art Spiegel zu erkennen. Deswegen sagt er, daß der Menschensohn nicht einfach sterben, sondern an’s Kreuz geschlagen werden müsse, damit das Kreuz, wie ein Gottesgelehrter durch seine Gestalt den Einsichtsvolleren die allmächtige Gewalt Desjenigen predige, der an demselben erscheint und Alles in Allem ist.
(Aus der Rede über die dreitägige Feier des Sterbens und Auferstehens Christi des Hl. Gregor von Nyssa)